Spezialfälle Sozialversicherungen: Heimliche Stellvertretung, Jobsharing und «geschenkte» Überstunden

Mitarbeitende im HR sehen sich immer wieder mit Fragen zur Arbeitsausführung konfrontiert, die im ersten Moment seltsam anmuten. Es gilt genauer hinzusehen, den Sachverhalt genau zu analysieren und dann zu entscheiden, ob eine konforme Lösung möglich ist.

14.08.2024 Von: Christa Kalbermatten, Myriam Minnig
Spezialfälle Sozialversicherungen

Spezialfälle Sozialversicherungen - Die (heimliche) Stellvertretung

Ausgangslage 

Ein kleines Unternehmen beschäftigt Rolf im Stundenlohn für die Büroreinigung jeden Dienstagabend. Das sind nur wenige Stunden, die monatlich abgerechnet und überwiesen werden, einen schriftlichen Arbeitsvertrag gibt es nicht. Wenn Rolf in den Ferien ist oder aus anderen Gründen ausfällt, erledigt aushilfsweise seine Schwester die Wochenreinigung. Der Arbeitgeber hat mit der Arbeitsplanung nichts zu tun, die beiden regeln das eigenständig untereinander. 

Arbeitsrechtliche Beurteilung 

Unabhängig von Art und Umfang der Beschäftigung handelt es sich um ein Arbeitsverhältnis mit allen rechtlichen Konsequenzen. Zwingendes Recht ist anwendbar, selbst dann, wenn durch mündliche Absprache oder unwidersprochene Praxis etwas anderes vereinbart ist. Es stellt sich somit die Frage: Ist es zulässig, dass mehrere Personen denselben Job abwechslungsweise ausüben?

Art. 321 OR sagt dazu: 
«Der Arbeitnehmer hat die vertraglich übernommene Arbeit in eigener Person zu leisten, sofern nichts anderes verabredet ist oder sich aus den Umständen ergibt.» 

Es ist somit möglich, eine andere Verabredung zu treffen. Es ist jedoch empfehlenswert, eine solche schriftlich festzuhalten und dabei einige Details zu regeln (siehe auch nächstes Beispiel). Zudem obliegt dem Arbeitgeber dennoch die Pflicht, alle Personen zu identifizieren und sicherzustellen, dass sie grundsätzlich zur Arbeit berechtigt sind. 

Sozialversicherungsrechtliche Beurteilung 

Die Unterstellung unter die Sozialversicherungen ist immer an eine Person und ihre Eigenschaften gebunden. Es ist unzulässig, eine Person zu entlöhnen für Arbeit, die eine andere Person ausgeführt hat, auch mit deren Einverständnis. Was bedeutet das im vorliegenden Beispiel?

AHV/IV 
Die Renten der ersten Säule sind abhängig von der Anzahl erfüllter Beitragsjahre sowie vom durchschnittlichen Einkommen in diesen Jahren. Beides wird registriert im individuellen Konto (IK), geführt von der ZAS (Zentrale Ausgleichsstelle). Wie der Name schon sagt, wird das IK pro Person geführt. Der Arbeitgeber in unserem Beispiel muss demnach den Lohn zwingend für die jeweils geleistete Arbeit der entsprechenden Person abrechnen. 

ALV/EO/UVG/KVG
Diese Sozialversicherungen folgen der AHV-Pflicht, was bedeutet, dass die Löhne in derselben Aufteilung pro Per- son zu melden sind wie bei der AHV. Im Leistungsfall erfolgt die Anspruchsklärung aufgrund der persönlichen Ge- gebenheiten, wie beispielsweise die Vermittlungsfähigkeit bei der ALV oder die persönliche Dienstleistungspflicht für den Anspruch auf EO-Taggelder. Noch offensichtlicher ist die Notwendigkeit der persönlichen Zuteilung beim Anspruch auf Mutterschafts- oder Vaterschaftsentschädigungen sowie auf Leistungen bei Unfall oder Krankheit. 

Quellensteuer
Die Quellensteuer ist keine Sozialversicherung, aber auch mit dem Lohn abzurechnen. Der Tarif hängt nebst der Lohnhöhe auch von persönlichen Faktoren ab wie Zivilstand und Familienverhältnisse.

Fazit 

Eine Stellvertretung ohne Wissen des Arbeitgebers ist unzulässig. Auch bei gegenseitiger Einigung über die Arbeits- bedingungen muss jeder Mitarbeitende für sich erfasst, versichert und entlöhnt werden. Zwingende Verantwortlichkeiten kann der Arbeitgeber nicht dem Mitarbeitenden übertragen. 

Spezialfälle Sozialversicherungen - Jobsharing

Ausgangslage

Zwei Familienväter wollen sich eine Stelle teilen mit je einem Pensum von 60%. Zusammen erfüllen sie ein Stellenprofil, tragen solidarisch die Verantwortung und werden als Team beurteilt in einem gemeinsamen Zielgespräch. Sie überzeugen den Arbeitgeber mit folgenden Argumenten: 

  • Die Stelle ist durchgängig besetzt und die Vertretung jederzeit gewährleistet, ohne Notwendigkeit von Überzeit und damit verbundenem Burn-out-Risiko. 
  • Die Qualität der Arbeit steigt durch die Bündelung sich ergänzender Stärken und die laufende gegenseitige Kontrolle.
  • Die Innovationskraft steigt, und Projekte sind besser durchdacht dank konstanten Sparrings. 
  • Das Unternehmen profiliert sich als moderner Arbeitgeber und ist attraktiv für den umkämpften Fachkräfte-markt. 

Beurteilung

Wie bereits im vorhergehenden Beispiel gesehen, ist eine solche Vereinbarung grundsätzlich möglich. Aufgrund des höheren Pensums und der betrieblichen Bedeutung der Position kommen einige Aspekte hinzu. So sind die Schutzbestimmungen im Arbeitsrecht individuell anwendbar und müssen daher vom Arbeitgeber entsprechend überwacht werden (Höchstarbeitszeit, Mindestruhe- und Pausenzeiten), ebenso die Grenzwerte und Voraussetzungen für Sozialversicherungen (Eintrittsschwelle berufliche Vorsorge, UVG-Deckung Nichtberufsunfall, Vorbehalte einer Krankenversicherung). 

Auch in Bezug auf die Arbeit gilt es Punkte zu klären wie beispielsweise die Haftung des Arbeitnehmenden, Unter- schriftsregelungen, Sicherstellung der Informationsdurchlässigkeit und -dokumentation, Vorgehen bei Uneinigkeit der beiden oder bei Kündigung von einem der Jobsharenden.

Spezialfälle Sozialversicherungen - Meine, deine, unsere Stunden

Ausgangslage 

Martina und Sandra leben zusammen und sind beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt. Sie möchten gemeinsam eine längere Reise unternehmen. Martina verfügt aufgrund eines Sondereinsatzes über ein hohes Überstundenguthaben, von dem sie Sandra für die Reise einen Teil abtreten möchte. 

Arbeitsrechtliche Beurteilung 

Das Gesetz schränkt die Abtretung von künftigen Lohnforderungen stark ein. Vorliegend geht es jedoch nicht um künftigen Lohn. Die Abtretung wäre somit grundsätzlich möglich mit schriftlicher Abtretungsvereinbarung, was mit Aufwand und rechtlichen Restrisiken verbunden ist.

Sozialversicherungsrechtliche Beurteilung

Wie bereits gesehen gilt:

  • Versichert ist, was Lohncharakter hat. 
  • Als Lohn gilt, was im Gegenzug für geleistete Arbeit ausgerichtet wird. 
  • Die subjektive Unterstellung unter Sozialversicherungen ist an eine Person gebunden.
    Überträgt der Arbeitgeber einen Teil von Martinas Überstunden an Sandra, erfolgt damit eine Lohnzahlung an die falsche Person – sei es bei der Auszahlung der Überstunden oder bei deren Kompensation mit Lohnfortzahlung.

Fazit 

Selbst wenn der Arbeitgeber mit einer Übertragung der Überstunden einverstanden wäre, ist dies sozialversiche- rungsrechtlich nicht zulässig. Eine konforme Lösung ist, Sandra einen unbezahlten Urlaub zu gewähren und Martina einen Teil der Überstunden auszuzahlen, sodass die beiden die Finanzierung ihrer Reise privat regeln können. 

Spezialfälle Sozialversicherungen - Vom Anfang und vom Ende

Ausgangslage 

Die fiktive «Neu AG» hat einen Arbeitsvertrag mit Thomas abgeschlossen per 1. August. Beim bisherigen Arbeitgeber hat Thomas noch ein Ferienguthaben von fünf Wochen. Er möchte bei der Neu AG bereits am 15. Juli starten und sich die nicht mehr kompensierbaren Ferien beim bisherigen Arbeitgeber auszahlen lassen.

Arbeitsrechtliche Beurteilung 

Gemäss Art. 329d Abs. 2 OR dürfen Ferien während der Dauer eines Arbeitsverhältnisses nicht durch Geldleistungen abgegolten werden, bei Austritt ist die Auszahlung jedoch zulässig. Um klare Verhältnisse zu schaffen, sollte mit dem bisherigen Arbeitgeber eine Aufhebungsvereinbarung per 14. Juli abgeschlossen werden. Tritt Thomas das Arbeitsverhältnis bei der Neu AG am 15. Juli an, ist das der Vertragsbeginn, auch wenn der schriftliche Arbeitsvertrag nicht angepasst wird.

Sozialversicherungsrechtliche Beurteilung 

Die tatsächlichen Verhältnisse sind auch massgebend für die Sozialversicherungen. Das bedeutet (siehe Tab. 1):

 Bisheriger ArbeitgeberNeuer Arbeitgeber
AusgleichskasseAustritt per 14. JuliEintritt per 15. Juli
PensionskasseAustritt per 14. Juli, Nachdeckung 1 Monat, ­falls­kein­ neuer­ PK-AnschlussEintritt per 15. Juli
Unfallversicherung UVGEndet ­am­ 14.­Juli,­ Nachdeckung ­31 Tage, falls keine neue Deckung nach UVGBeginnt am 15. Juli 
Krankentaggeld­versicherung nach KVGEndet am 14. Juli, inkl. Anspruch auf laufendes Taggeld, Möglichkeit Übertritt in EinzelversicherungBeginnt am 15. Juli bzw. je nach Vertrag
Krankentaggeld­versicherung nach VVGEndet am 14. Juli, Anspruch auf laufendes Taggeld endet i.d.R. mit Ablauf
vereinbarte Dauer - Versicherungsbedingungen beachten! 
Beginnt am 15. Juli bzw. je nach Vertrag

Tabelle 1

Fazit 

Solche Sachverhalte sollen getrennt beurteilt und geregelt werden, sodass alle Parteien Klarheit haben darüber, wer wann welche Verantwortungen trägt.

Spezialfälle Sozialversicherungen - Ferien auf Mass

Ausgangslage

Eine  Mitarbeiterin möchte jeweils im Sommer acht Wochen Ferien beziehen. Ihr Arbeitsvertrag sieht die gesetzlichen vier Wochen Ferien vor, einen unbezahlten Urlaub kann sie sich nicht leisten. Sie schlägt daher vor, die zusätzlichen vier Wochen vor- bzw. nachzuholen mit einer erhöhten Wochenarbeitszeit. Die Normalarbeitszeit gemäss Arbeitsvertrag beträgt 45 Stunden. Die gesetzliche Höchstarbeitszeit beträgt für dieses Unternehmen 50 Stunden. Welche Möglichkeiten gibt es, der Mitarbeiterin den Wunsch kostenneutral zu gewähren?

Modell Vorholzeit 

Im Rahmen der Differenz zwischen gesetzlicher Höchst- und vertraglicher Normalarbeitszeit können die Ferien mittels Überstunden erarbeitet werden. Vorliegend wird während 44 Wochen gearbeitet, wöchentlich sind maximal fünf Überstunden möglich, was total 220 Stunden bzw. 4,89 Wochen ergibt – dies reicht aus, zusätzliche vier Wochen Freizeit zu erarbeiten. 

Modell Vertragsanpassung 

Alternativ können die Sollzeit sowie der Ferienanspruch im Arbeitsvertrag erhöht werden. Bei einer Sollzeit von 49 Stunden erhöht sich das Stundensoll über 44 Wochen um 176 Stunden, was die zusätzlichen Ferien fast deckt. 

In beiden Modellen sollten die Fragen aus Tabelle 2 besprochen und in einer Vereinbarung geregelt werden.

Modell VorholzeitModell Vertragsanpassung
Was ist, wenn im Betrieb nicht genügend Arbeit anfällt, um die zusätzlichen Stunden zu leisten?
Arbeitgeber­ ist ­nicht­ verpflichtet­ Arbeit­ für­ Überstunden zu beschaffen; Arbeitsmangel geht zulasten der Arbeitnehmerin. Arbeitgeber ist verantwortlich für die Arbeitsbeschaffung im Rahmen der Sollzeit; Unterzeit infolge Arbeitsmangel geht zu seinen Lasten.
Was ist, wenn die Mitarbeiterin aus anderen Gründen ausfällt?
Nicht geleistete Überstunden können nicht kompensiert werden.Lohnfortzahlung gilt für (erhöhte) vereinbarte Arbeitszeit; Ausfall geht zulasten Arbeitgeber.
Was ist, wenn das Arbeitsverhältnis während des Jahres aufgelöst wird?
Vor- bzw. Nachholzeit bilden einen grösseren Saldo, dessen Ausgleich geregelt werden muss.Statt Stunden- ergibt sich ein Feriensaldo
Beendigung vor Ferienbezug
  • Positiver Stundensaldo
  • Vereinbarung kann Kompensation bei Austritt oder Auszahlung vorsehen unter Wegbedingung des gesetzlichen Zuschlags
  • Positiver Feriensaldo
  • Vereinbarung kann Kompensation bei Austritt oder Auszahlung vorsehen
Beendigung nach Ferienbezug
  • Negativer Stunden- bzw. Feriensaldo
  • Kündigung durch Mitarbeiterin: Minus kann vom Lohn in Abzug gebracht werden unter Berücksichtigung Existenzminimum
  • Kündigung durch Arbeitgeber: Verrechnung dürfte nicht durchsetzbar sein, Saldo geht zulasten Arbeitgeber
Weitere Hinweise
  • Modell könnte von weiteren Mitarbeitenden gefordert werden (Gleichbehandlung)
  • Für viele Betriebe gilt gesetzliche Höchstarbeitszeit 45 Stunden/Woche. 
  • Mindestpausen, Ruhezeiten, Nacht- und Sonntagsarbeitsverbot sind weiterhin einzuhalten. 
  • Im Rahmen der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers hat er die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen

Tabelle 2

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