Digitale Assessments: Mehr Objektivität bei der Talentauswahl

Unconscious Biases können Entscheidungen in der Talentauswahl beeinträchtigen. Digitale Assessments erhöhen die Objektivität und wirken somit unbewussten Verzerrungen entgegen. Voraussetzung ist die Auswahl qualitativ hochwertiger Lösungen und eine professionelle Implementierung.

10.01.2022 Von: Angelika Kornblum
Digitale Assessments

Unconscious Biases in der Rekrutierung

Unsere Wahrnehmung ist nicht perfekt. Auch wenn wir objektive Urteile fällen wollen, können wir den Einfluss von Stereotypen und kognitiven Verzerrungen auf unsere Entscheidungen nie komplett ausschliessen. Aus der psychologischen Forschung gibt es zahlreiche Beispiele, welche die mangelnde Rationalität menschlicher Entscheidungen aufzeigen. In seinem Bestseller «Thinking fast and slow» beschreibt Daniel Kahneman (2011), dass unsere alltäglichen Entscheidungsprozesse zum Teil auf intuitiven Reaktionen beruhen, die ohne unser Bewusstsein aktiviert werden und ausserhalb unserer Kontrolle liegen. Diese kognitiven «Shortcuts» liegen in der menschlichen Natur, da sie die Schnelligkeit und Effizienz der Entscheidungsfindung steigern. Gleichzeitig sind sie anfällig für Fehler und können zu systematischen Verzerrungen führen – und somit auch die Qualität unserer Entscheidungen beeinträchtigen (Larrick, 2016).

Eine aktuelle Studie mit Daten aus über 400'000 Suchanfragen auf einer Schweizer Online-Plattform zur Jobvermittlung offenbart, dass Diskriminierung aufgrund der Herkunft und des Geschlechts im Schweizer Arbeitsmarkt alltägliche Realität ist (Hangartner, Kopp, & Siegenthaler, 2021). Auf der Online-Plattform wurden Personen mit Migrationshintergrund um bis zu 18.5% seltener von Recruiter*innen kontaktiert als Personen mit Schweizer Staatsbürgerschaft – obwohl die Kandidat*innen sich abgesehen von ihrer Herkunft nicht in wesentlichen Merkmalen unterschieden. Zudem fanden die Autoren geschlechtsspezifische Unterschiede: Für Stellen in Berufen mit einem niedrigen Frauenanteil (z.B. technische Berufe) wurden weibliche Kandidatinnen signifikant seltener von Recruiter*innen kontaktiert. Umgekehrt waren männliche Kandidaten weniger gefragt, wenn es sich um eine Stelle mit einem niedrigen Männeranteil (z.B. Pflegeberufe) handelte. Diese ausgeprägten Unterschiede sind laut den Studienautoren mit hoher Wahrscheinlichkeit durch unbewusste Vorurteile der Recruiter*innen gegenüber den benachteiligten Personengruppen erklärbar.

Im Rekrutierungsprozess sind unbewusste Verzerrungen besonders problematisch, da sie kritische Fehlentscheidungen verursachen können (für einige Beispiele siehe Tabelle 1). Wenn beispielweise eine passende Kandidatin aufgrund von unbewussten Vorurteilen auf Seiten des Recruiters nicht für eine Stelle berücksichtigt wird, hat dies nicht nur für die Kandidatin, sondern auch für den Arbeitgeber erhebliche negative Konsequenzen. Zum einen bringt sich der Arbeitgeber dadurch um eine geeignete Kandidatin, welche die Anforderungen der Stelle erfüllen und eine hohe Leistung im Job zeigen könnte. Zum anderen können systematische Verzerrungen zu Diskriminierung und einer eingeschränkten Diversität in Teams führen.

(Wie) können digitale Assessments gegen Unconscious Biases helfen?

Dass in der Talentauswahl komplett objektive Entscheidungen ohne persönliche Aspekte getroffen werden, ist weder realistisch noch erstrebenswert. Trotzdem ist es notwendig, gegen unbewusste kognitive Verzerrungen vorzugehen, um den Rekrutierungsprozess möglichst zielgerichtet zu gestalten und den am besten geeigneten Kandidaten bzw. die am besten geeignete Kandidatin einstellen zu können. Die zunehmende Digitalisierung des Rekrutierungsprozesses bietet vielfältige Möglichkeiten um den Einfluss von kognitiven Verzerrungen zu minimieren. Ein Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Einsatz digitaler Assessments. Darunter fallen alle psychometrischen Testverfahren, die online bearbeitet werden – beispielsweise Online-Persönlichkeitstests oder online durchgeführte kognitive Leistungstests. Digitale Assessments bringen verschiedene Vorteile mit sich, wie eine hohe Flexibilität, Attraktivität und Akzeptanz bei den Kandidat*innen sowie eine gute Vorhersagekraft für die spätere berufliche Leistung (siehe Abbildung 1) – dennoch wird das Potenzial dieser Verfahren in der Schweiz bisher nicht von allen Arbeitgebern ausgeschöpft (Hell, Vögeli, & Hermann, 2020).

 

Einer der grössten Vorteile, den ein digitales Assessment in der Talentauswahl bietet, ist eine bedeutsame Erhöhung der Objektivität des Auswahlprozesses. Mit «Objektivität» ist gemeint, dass die Ergebnisse des Assessments durch die automatisierte Durchführung und Auswertung unabhängig von der Person sind, die für die Rekrutierung zuständig ist. Das heisst: Welches Ergebnis ein/e Kandidat*in in einem Online-Fähigkeitstest oder Online-Persönlichkeitsfragebogen erzielt, hängt nicht von der subjektiven Einschätzung des Recruiters oder der Recruiterin ab – und ist somit unabhängig von unbewussten kognitiven Verzerrungen. Bei einer professionellen Anwendung kann ein digitales Assessment wesentlich zur Standardisierung des Rekrutierungsprozesses beitragen und eine datenbasierte Grundlage für weitere Schritte wie das Einstellungsinterview liefern. Diese Standardisierung erlaubt es zudem, die Auswahlkriterien zielgerichtet auf die notwendigen Fertigkeiten und Fähigkeiten zu legen und so mögliche Skill-Gaps im Unternehmen zu vermeiden respektive abzubauen.

Der Einsatz von digitalen Tools allein wird jedoch nicht dabei helfen, das Problem der Unconscious Biases zu lösen. Testverfahren wie kognitive Leistungstests können ebenfalls zu Benachteiligung führen, beispielsweise wenn ein bestimmter Test systematische Unterschiede zwischen Personengruppen aufweist (Aguinis & Smith, 2007). Auch die Anwendung innovativer Methoden wie Künstliche Intelligenz wird durch die zunehmende Digitalisierung ermöglicht – dennoch ist hier Vorsicht geboten, da die verwendeten Algorithmen ebenfalls zu systematischer Benachteiligung führen können (World Economic Forum, 2019).

Damit digitale Assessments bei der Reduktion von systematischen Verzerrungen im Auswahlprozess helfen können, müssen aus unserer Perspektive mehrere Voraussetzungen gegeben sein:

  • Die Verfahren müssen psychometrische Qualitätskriterien wie Reliabilität und Validität erfüllen – das Verfahren muss zuverlässig sein und das erfassen, was gemessen werden soll (z.B. Persönlichkeit)
  • Es sollte nachgewiesen sein, dass die Verfahren fair sind und keine systematischen Unterschiede zwischen Personengruppen bestehen (z.B. sollte es im Mittel keinen signifikanten Unterschied in den Testergebnissen zwischen Männern und Frauen geben)
  • Die Anwender*innen aus dem Recruiting sollten in der Interpretation und Nutzung der Ergebnisse geschult sein und den Hintergrund des digitalen Assessments als wichtige zusätzliche Datenquelle kennen
  • Es sollte klar festgelegt sein, wie die Ergebnisse des digitalen Assessments interpretiert und genutzt werden (z.B. Definition eines Cutoff-Scores bei kognitiven Fähigkeitstests)

Digitale Assessments besitzen ein hohes Potenzial zur Verbesserung der Fairness und Objektivität in der Talentauswahl, da sie nicht für «Unconscious Biases» anfällig sind. Ob der Einsatz der digitalen Tools tatsächlich den erwünschten Effekt erzielt, hängt schlussendlich auch von den Qualitätskriterien der Verfahren selbst und dem standardisierten und professionellen Einsatz im Rekrutierungsprozess ab.

Take-Home-Messages:
Unconscious Biases, d.h. unbewusste kognitive Verzerrungen, sind allgegenwärtig und können die Entscheidungsfindung in der Talentauswahl beeinträchtigen.
Digitale Assessments erhöhen die Standardisierung und Objektivität und helfen dadurch, unbewussten Verzerrungen im Rekrutierungsprozess entgegenzuwirken.
Die eingesetzten Verfahren sollten psychologische Qualitätskriterien wie Reliabilität, Validität und Testfairness erfüllen.
Eine professionelle Umsetzung und das entsprechende Know-How bei den Anwender*innen sind entscheidend für einen erfolgreichen Einsatz digitaler Assessments im Rekrutierungsprozess.

Quellen

Aguinis, H., & Smith, M. A. (2007). Understanding the Impact of Test Validity and Bias on Selection Errors and Adverse Impact in Human Resource Selection. Personnel Psychology, 60, S. 165–199.

Hangartner, D., Kopp, D., & Siegenthaler, M. (2021). Monitoring hiring discrimination through online recruitment platforms. Nature, 589, S. 572–576.

Hell, B., Vögeli, S., & Hermann, M. (April 2020). Rekrutierung zwischen Digitalisierung und persönlicher Ansprache. personalSCHWEIZ, S. 19–21.

Kahneman, D. (2011). Thinking fast and slow. New York, NY: Farrar, Straus and Giroux.

Larrick, R. P. (2016). The Social Context of Decisions. Annual Review of Organizational Psychology and Organizational Behavior, 3, S. 441–67.

Nault, K. A., Pitesa, M., & Thau, S. (2020). The Attractiveness Advantage At Work: A Cross-Disciplinary Integrative Review. Academy of Management Annals, 14(2), S. 1103–1139.

World Economic Forum. (9. Mai 2019). AI-assisted recruitment is biased. Here’s how to make it more fair.

Abgerufen: Juli 2021 von www.weforum.org/agenda/2019/05/ai-assisted-recruitment-is-biased-heres-how-to-beat-it/

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