Stufenorientierte Kompetenzentwicklung: Den natürlichen Wachstumsprozess gezielt gefördert
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Die psychologischen Grundlagen der Stufenentwicklung
Der Schweizer Jean Piaget (1896–1980) gehört mit seinen Forschungen zur Kindheitsentwicklung zu den Pionieren der Stufenentwicklungsforschung. Mit seinen genialen Tests lässt sich z.B. ermitteln, ob ein Kind schulreif ist, weil es die magisch-mystische Weltsicht des Kleinkindes ( Stufe 2) hinter sich gelassen hat und der Welt nun mit einer konkreten Logik (S3) begegnet. Mit einem anderen Test kann man ermitteln, ob bei einem jugendlichen Menschen bereits die abstrakte Logik (S4) im Entstehen ist. Das ist die letzte von Piaget erforschte Stufe. Piagets Nachfolger (L. Kohlberg, R. Kegan u.v.a.) fanden solche Stufenentwicklungsphänomene auch bei Erwachsenen. Inzwischen gibt es eine grosse Fülle unterschiedlichster, teils absolut unabhängiger Forschungsergebnisse zu diesem Thema.
Die Stufenentwicklung unterscheidet zwischen horizontaler und vertikaler Entwicklung. Bei der horizontalen Entwicklung baut man bestehende Fähigkeiten aus und reichert Wissen an. Ein Beispiel: Im Rahmen der konkreten Logik (S3) lernen und üben die Schulkinder lesen, schreiben, rechnen, messen, wägen usw. Am Anfang sind die Aufgaben sehr einfach, dann steigen die Anforderungen schrittweise. Am Ende dieses Lernprozesses haben die Schulkinder die neuen Fähigkeiten so gut trainiert, dass sie diese «im Schlaf» abrufen können. Jetzt ist ihr Gehirn frei für komplett neue Lernaufgaben.
Bei einem vertikalen Entwicklungsprozess wird eine neue Handlungslogik entwickelt. Das ist eine erweiterte Form des Wahrnehmens, Verarbeitens und Verhaltens. Ein Beispiel: In der Sekundärstufe wird die Entwicklung der abstrakten Logik (S4) über Algebra, abstraktes Argumentieren, hypothetisches Denken usw. gefördert. Die Didaktik wird anspruchsvoller, und die Schüler werden bewusst in ihrer bestehenden Logik herausgefordert. Die neue, abstrakte Logik eröffnet den Jugendlichen eine ganz neue Welt.
Die sich von Stufe zu Stufe weiterentwickelnden Kompetenzen
Zu Zeiten von Piaget war die gemeinschaftsbestimmte Stufe 4 noch die verbreitetste unter der erwachsenen Bevölkerung. Heute gehören nur noch rund 12% dieser Stufe 4 an. Mitarbeitende mit einer gut entwickelten Stufe 4 engagieren sich gewissenhaft für fachlich anspruchsvolle, aber gut strukturierte, wiederkehrende Aufgaben. Mit unbekannten Problemen, schlecht strukturierten Aufgaben und zeitlichen Engpässen tun sich diese Menschen noch schwer. Menschen mit einer rationalistischen Handlungslogik (S5, heute rund 38% der Erwachsenen) lösen solche Aufgaben hingegen gerne. Diese Stufe wird in weiterführenden Schulen und in fachlichen und methodischen Weiterbildungen gefördert. Rationalistische Menschen (S5) gehen den Dingen gerne auf den Grund. Sie orientieren sich an Standards und arbeiten entsprechend systematisch. Sie achten nicht nur auf den Arbeitsinhalt, sondern sie haben auch den Arbeitsprozess selbst im Blick. Sie sind darum gut in der Lage, die Arbeit zu planen und Arbeitsprozesse zu optimieren. Sie bilden sich zu relevanten Fragen eine eigene Meinung und vertreten diese sachlich und fundiert. Wenn sie einmal eine Meinung gefunden haben, dann sind sie nur schwer von etwas Neuem zu überzeugen. Die Meinungen von verschiedenen Fachexperten können sehr hart aufeinanderprallen. Fach- und organisationsübergreifende Zusammenarbeit der Stufe 5 Mitarbeitenden verläuft darum oft zäh und schwierig.
Das ist eine der Stärken der eigenbestimmten Menschen (S6, 30% der Erwachsenen). Diese Handlungslogik ermöglicht es den Menschen, im eigenen Fachgebiet in die Tiefe zu gehen und gleichzeitig auch fachgebietsübergreifend in Zusammenhängen und Abhängigkeiten zu denken. Eigenbestimmte (S6) sind sich bewusst, dass sie auf die Unterstützung anderer angewiesen sind – und das macht sie sehr viel kompromissbereiter und offener für Feedback als Menschen der früheren Stufen. Eigenbestimmte (S6) sind bessere Zuhörer als rationalistische Menschen (S5). Sie sind gut in der Lage, sich in die Perspektive des Gegenübers hineinzuversetzen, und das können sie auch nutzen, wenn sie andere von etwas überzeugen wollen. Sie sind sehr ziel- und ergebnisorientiert, fokussieren mehr auf Effektivität als nur auf Effizienz, und ihr Commitment ist hochgradig verlässlich.
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Die relativierende Stufe 7 ist mit rund 10% noch nicht sehr verbreitet. Relativierende (S7) haben eine grosse Toleranz gegenüber unterschiedlichsten Ansichten, und sie stellen viele tradierte Wahrheiten infrage. Das ist ein Nährboden für aussergewöhnliche Kreativität. Diese Menschen verfügen über ausdifferenzierte zwischenmenschliche Fähigkeiten, und im Team können sie Ausserordentliches vollbringen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie mit ihrer Arbeit etwas Sinnvolles bewirken können.
Die stufenorientierte Kompetenzentwicklung fördert den natürlichen Wachstumsprozess
Aus der Stufenforschung können wir aber nicht nur lernen, welche Kompetenzen auf welcher Stufe entstehen, wir finden auch wichtige Anhaltspunkte dafür, wie Stufenentwicklung abläuft und wie diese wirkungsvoll gefördert werden kann. Die mit Abstand wichtigste Erkenntnis: In der Stufenentwicklung baut jede Stufe auf der vorangehenden auf. Menschen können zwar versuchen, sich an Entwicklungsziele, die mehr als eine Stufe von der aktuellen Reife entfernt liegen, anzupassen. Entwicklung ist auf diesem Wege aber nicht möglich, und darum fallen diese Menschen wieder in ihre etablierten Muster zurück. Bei Entwicklungszielen, die maximal eine Stufe von der aktuellen Reife entfernt liegen, gelingt die Entwicklung dafür meist erstaunlich leicht. Nach einer angemessenen Trainingszeit können bei Bedarf gut weitere Entwicklungsschritte anschliessen.
Praxistipp für die Etablierung einer stufenorientierten Kompetenzentwicklung
- Bauen Sie Ihr betriebliches Kompetenzmodell in ein stufenorientiertes Modell um. Sie müssen dafür keine neuen Kompetenzen erfinden, sondern die bestehenden Kompetenzen in konkrete Entwicklungsschritte aufteilen.
- Wenn die Reife des Menschen und die Reifeanforderung der Aufgabe nicht zusammenpassen, kommt es entweder zu einer Überforderung oder zu einer Unterforderung. Definieren Sie darum für jede Aufgabe/Stelle den notwendigen Reifegrad.
- Die stufenorientierten Kompetenzbeschreibungen (individuelle Kompetenzen und Führungskompetenzen) liefern eine gute Grundlage für eine Selbsteinschätzung. Im Mitarbeitendengespräch kann das Eigenbild mit dem Fremdbild der vorgesetzten Person abgeglichen und können sehr konkrete Entwicklungsziele vereinbart werden.
- Ein konkreter Kompetenzentwicklungsplan (Was will ich erreichen? Wie will ich das Neue lernen und trainieren? Wie werde ich Fortschritte erkennen und den Lernprozess reflektieren?) hilft dabei, die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Entwicklungsziele zu richten. Kleine Fortschritte werden sichtbar und motivieren, die Entwicklungsbemühungen aufrechtzuerhalten.