Produktivität steigern: Die Rolle der Personalabteilung in Zeiten des Fachkräftemangels

Eine der grössten Fragen unserer Zeit ist, wie wir trotz zunehmenden Fachkräftemangels die Produktivität in Organisationen aufrechterhalten können. Antworten auf diese Frage bergen oft Risiken für unsere mentale Gesundheit in sich. Wie gelingt es uns, gesund zu bleiben und dennoch den Anforderungen einer dynamischen Welt gerecht zu werden?

10.09.2024 Von: Sandra Berenbold
Produktivität steigern

Die Wirtschaft im europäischen Raum leidet. Es werden einerseits Wege aus dem wirtschaftlichen Abschwung gesucht, und andererseits fehlt es an notwendigen Zukunftsinnovationen. Der Fachkräftemangel wird in seiner vollen Wucht spürbar. Wir haben schlichtweg zu wenige Menschen für zu viel Arbeit. Die Produktivität in Organisationen müsste sogar gesteigert werden, um die Abwärtsspiralen zu durchbrechen und den zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden. Doch wie soll das gelingen? Müssen wir alle einfach noch mehr arbeiten und uns noch mehr anstrengen, um das fehlende Fachpersonal auszugleichen?

Viele Organisationen sehen gerade wenige Alternativen zu diesem Ansatz. Und sie bekommen gleichzeitig die Folgen für die mentale Gesundheit zu spüren. Im Januar 2024 veröffentlichte die Techniker Krankenkasse in Deutschland die Anzahl der Fehltage durch Krankheit Erwerbstätiger im Jahr 2023. Tatsächlich ist das Niveau mit 19,4 Tagen im Jahr 2023 verglichen mit 2,37 Tagen vor Corona stark angestiegen. Leider kann man diesen Anstieg nicht auf Corona und andere Atemwegserkrankungen schieben. Diese machen nur etwa ein Viertel des Anstiegs aus. Die zweithäufigste Ursache für die Zunahme der Krankentage sind psychische Erkrankungen wie Depressionen und Burn-out. Der Verband der deutschen Pharmaunternehmen argumentiert sogar, dass Deutschland auch wegen des hohen Krankenstands in eine Rezession gerutscht sei. Das sollte uns zu denken geben und dringend dazu anregen, über neue Wege der Produktivitätssteigerung nachzudenken – ohne die mentale Gesundheit zu gefährden.

Potenziale aktivieren – Produktivität steigern

Viele Organisationen haben aktuell einen eher einseitigen Fokus auf die Behebung des Fachkräftemangels. Dieser liegt auf der Gewinnung von Fachpersonal durch die Vereinfachung von Personalgewinnungsprozessen sowie die Steigerung der Arbeitgeberattraktivität. Dabei wird häufig übersehen, dass es ebenso Stellhebel beim bestehenden Personal gibt. Schaffen wir ein Umfeld, in welchem unsere Mitarbeitenden motiviert arbeiten können? Nutzen wir die Potenziale unserer Mitarbeitenden in vollem Umfang? Investieren wir genug in unsere Mitarbeitenden und unsere Organisation, damit diese sich entwickeln können? Tun wir genug, damit unsere Mitarbeitenden bei uns bleiben? Aktuelle Entwicklungen in Unternehmen gehen leider in genau die andere Richtung. Qualifizierungsmassnahmen für Mitarbeitende werden ausgesetzt, da diese keine Zeit haben, an Weiterbildungen teilzunehmen. Investitionen in die Kulturentwicklung werden gestrichen, um die Organisation auf Sparkurs zu halten. Führungskräfte und Teams werden auf Effizienz getrimmt. Zeit für gemeinsame Reflexion oder Dialog wird als unproduktiv angesehen. Dabei bräuchte es genau das alles mehr denn je. Denn die Notwendigkeit eines systemischen Umbaus unserer Organisationen, damit Mitarbeitende selbstbestimmt arbeiten und ihre Potenziale voll entfalten können, war als Produktivitätstreiber selten wichtiger.

Die Rolle von HR

Die Rolle von HR ist in den letzten Jahren nochmals sehr viel anspruchsvoller geworden: zum einen mit Blick auf den systemischen Umbau unserer Organisationen, um zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden; zum anderen aber auch mit Blick auf die ganz konkreten Herausforderungen wie den Fachkräftemangel. Bruch et al. (2019) zeichnen ein Anforderungsprofil des Personalers der Zukunft, was quasi einem Geschäftsleitungsprofil entspricht. Dort finden sich unter anderem visionäres Denken, Experimentierfreudigkeit, Führungskompetenz oder Netzwerkfähigkeit. In vielen Organisationen sind Personalabteilungen noch nicht ausreichend aufgestellt, um all dem gerecht zu werden. Im Folgenden werden vier Stellhebel benannt, welche HR dennoch nutzen kann, um Produktivität über die Aktivierung des Potenzials in der Organisation zu stärken.

Sense of Urgency verdeutlichen

Es kommt nun einmal mehr darauf an, dass auf der Ebene Organisationsführung die richtigen Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden. In vielen Unternehmen dominiert aktuell kurz- oder mittelfristiges Denken mit Blick auf den wirtschaftliche Abschwung. Es wird schnell an den falschen Stellen gespart, und notwendige Investitionen in die Organisation und die Mitarbeitenden bleiben aus. HR ist ein wichtiger Impulsgeber für die Geschäftsleitung, um die Dringlichkeit für diese Themen aufzuzeigen. Oft hilft hier die langfristige strategische Perspektive. Welche Rahmenbedingungen – nicht nur strukturell, sondern auch kulturell – brauchen wir, um in dem neuen Umfeld gut aufgestellt zu sein? Wie müssen wir uns verändern, damit wir die Potenziale unserer Mitarbeitenden überhaupt nutzen können? Es kann dabei auch helfen, von den Kosten des «Not Changing» zu sprechen, um den Fokus auf den Mehrwert der Entwicklung von Organisationen oder Mitarbeitenden zu lenken. Weg vom reinen Denken in Opportunitätskosten im laufenden Geschäft, wenn dadurch Ressourcen beansprucht werden.

Zeit für Führung einfordern

Seit Jahren zeigen wissenschaftliche Studien, dass Führungskräfte weniger als 10% Zeit für Führung aufbringen – ihrem eigentlichen Hauptjob. Dabei sind Führungskräfte diejenigen, welche das Potenzial ihrer Mitarbeitenden und ihrer Organisation aktivieren können. Sie tragen Sorge dafür, dass vorhandene Ressourcen im Unternehmen überhaupt produktiv genutzt werden können. Führung hat einen indirekten Effekt auf die Produktivität und wird deswegen nicht immer gleichermassen geschätzt, wie wenn sich Führungskräfte aktiv in das operative Geschehen einbringen. Berenbold (2019) konnte zeigen, dass u. a. die permanente zeitliche Überforderung und Fremdsteuerung von Führungskräften zu einer deutlichen Reduktion der Führungswirksamkeit führt. Wir verlieren so doppelt Potenzial zur Produktivitätssteigerung – aufseiten der Führung und aufseiten der geführten Mitarbeitenden. HR sollte daher insbesondere die Befähigung der Führungskräfte als strategisch wichtig platzieren. Es ist wichtig, dass Führungskräfte nicht nur für ihre eigene Weiterentwicklung ausreichend zeitliche Ressourcen erhalten, sondern auch von dem operativen Geschäft entlastet werden.

Ownership erhöhen

Am Ende entscheiden jedoch die Mitarbeitenden, ob sie ihre Potenziale voll aktivieren und im Sinne der Organisation einsetzen. Das kann nicht verordnet werden, trotz allem Produktivitätsdruck. Ownership ist die gefühlte Verantwortung im Vergleich dazu, ob man verantwortlich gemacht wird. Es entsteht, wenn wir eine starke Sinnhaftigkeit empfinden, das Gefühl haben, empowert zu sein, Vertrauen geniessen und uns selbst als wirksam in unserer Arbeit empfinden – also vieles, was wir als Dimensionen von New Work kennen (Dämon et al., 2023). HR kann das Entstehen von Ownership und damit die Potenzialentfaltung bewusst unterstützen. Zum einen als Sparringspartner in einer aktivierenden Kommunikation sowie dem Coaching von Führungskräften. Zum anderen kann HR ebenso die bestehenden Mitarbeiterentwicklungsmassnahmen danach abprüfen, ob diese förderlich für das Entstehen von Ownership sind. Zu guter Letzt beeinflussen auch Massnahmen der Organisationsentwicklung das Entstehen von Ownership, beispielsweise durch das aktive Gestalten von Strukturen und Entscheidungsmechanismen, welche mehr Freiraum und Selbstbestimmung ermöglichen.

Eigene Transformationskompetenz & Position stärken

HR wird zunehmend zum Enabler von Transformationsprozessen und muss dafür entsprechend in der Organisation positioniert sein. Viele Personalbereiche sind sich sehr bewusst über die personalstrategischen Notwendigkeiten, es fehlt jedoch häufig an Durchschlagskraft. HR sollte sich Raum geben, auch die eigene Rolle strategisch zu reflektieren. Sind wir ausreichend gut mit den Entscheidern vernetzt? Sind wir Teil der Geschäftsleitung, oder bekommen wir dort ausreichend Gehör? Werden wir als Sparringspartner ernst genommen? Haben wir ausreichend Ressourcen und Entscheidungsspielraum? Wie können wir unsere Positionierung stärken? Neben der Positionierung ist auch entscheidend, ob der Personalbereich ausreichend befähigt ist, um der neuen Rolle gerecht zu werden. Es sollte daher bei allen anstehenden Herausforderungen nicht vergessen werden, auch die eigene Transformationskompetenz zu stärken. Dazu gehört unter anderem ein Abgleich, welche zukünftigen Kompetenzen im Personalbereich gebraucht werden, und die Möglichkeiten, sich diese anzueignen.

Fazit

Organisations- und Mitarbeiterentwicklung sind keine Nice-to-have-Projekte für gute Zeiten, sondern entscheidend für die Zukunftssicherung und das Überleben von Organisationen. Produktivität kann nicht durch Mehrarbeit gesteigert werden, sondern nur durch eine nachhaltige Neuausrichtung von Organisationen mit Fokus auf die Aktivierung von Potenzialen. Umso schwieriger ist es, wenn die notwendigen Investitionen für Organisations- und Mitarbeiterentwicklung gerade jetzt reduziert werden. Für Personaler heisst es dennoch, dranzubleiben. Ihnen kommt nun eine Schlüsselrolle als Enabler zu.

 

Quellen

Bruch H., Lohmann, T.R., Szlang, J., Heissenberg, G. (2019). People-Management 2025: Zwischen Kultur- und Technologieumbrüchen. www.pwc.de/de/human-resources/ pwc-study-people-management-2025.pdf 

Berenbold, S. (2019). Entstehung eines wirksamen Führungsklimas: eine empirische Untersuchung der positiven und negativen Treiber eines wirksamen Führungsklimas unter besonderer Berücksichtigung der Beschleunigungsfalle. Universität St. Gallen: Dissertationen. 

Dämon, K., Eversloh, S., Sauberschwarz, L., Weiss, L. (2023). NewWorkPlaybook. Franz Vahlen München.

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