Arbeitsflexibilität: Kompetenzorientierte Flexibilität gegen Fachkräftemangel
Passende Arbeitshilfen
Organisationale und funktionale Flexibilität
Die Arbeitsforschung umschreibt mit dem Begriff Flexibilisierung bisher vor allem die «Entgrenzung» von Arbeit: Überall und immer kann dank technischer Möglichkeiten gearbeitet werden; Arbeits- und Privatleben lassen sich nicht mehr scharf trennen.1 Diese organisationale Flexibilisierung der Arbeitswelt erlebt aktuell durch Corona einen enormen Schub. Exzessive organisationale Flexibilisierung testen auch umstrittene neue Geschäftsmodelle wie jene von Uber, Airbnb oder Spotify. Im Rahmen der sogenannten Uberisierung tritt an die Stelle einer Arbeitgeberin eine Plattform und an die Stelle von Mitarbeitenden treten Selbstunternehmer. Politik, Unternehmen, Sozialpartnerinnen und Individuen sind gefordert, faire Regeln für zunehmend flexible Organisationsformen auszuhandeln.
Unter dieser Oberfläche der organisationalen Umwälzungen der Arbeitsbedingungen findet eine zweite Entwicklung statt. Im Rahmen der sogenannten funktionalen Flexibilisierung qualifizieren sich Mitarbeitende nicht nur einmal im Leben, erlernen nicht nur einen Beruf, üben nicht dauerhaft dieselben Tätigkeiten aus und spielen nicht immer die gleiche Rolle in der gleichen Position. Ganz im Gegenteil: Mitarbeitende bilden sich im formalen und non-formalen Bildungsbereich beständig weiter, holen sich Zertifikate und Diplome, die ihre Zusatzqualifikationen ausweisen, und passen ihr Kompetenzprofil dynamischen Bedingungen an.
Herausforderung Personalentwicklung
Als Prototyp eines in jeder Hinsicht unflexiblen Systems gilt die Fliessbandproduktion, wie sie von Henry Ford zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA für die Automobilproduktion eingeführt wurde. In diesem System fungiert der Mensch als Zahnrad und führt dauerhaft monotone und dadurch abstumpfende Arbeiten aus. Für diese Arbeiten braucht es weder spezielle berufliche Kompetenzen und Qualifikationen noch beständige Veränderung des Kompetenz- und Qualifikationsprofils. Es braucht vor allem eines: maximale Stabilität. Mit der Automatisierung in der Industrie erübrigen sich viele der sogenannten unqualifizierten Arbeiten und werden (zunehmend) an spezialisierte Roboter delegiert. Anders gestaltet sich die Situation im wachsenden Dienstleistungssektor. Zwar werden auch da Arbeitsprozesse digitalisiert, die Digitalisierung und die Globalisierung schaffen aber auch neue Beschäftigungsfelder und verändern Berufe grundlegend. Diese Dynamik erfordert von Arbeitskräften stete Anpassung, Entwicklung und Veränderung in Bezug auf Qualifikationen und Kompetenzen. Und sie nimmt die Unternehmen in die Pflicht, dem ständig drohenden (oder bestehenden) Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Damit sind HR-Fachleute ganz besonders und zunehmend herausgefordert.
Das Weiterbildungsgesetz unterscheidet:
- Formale Bildung: Volks- und Berufsschule, Gymnasium, Bachelor- und Masterstudium an einer Fachhochschule oder Universität.
- Nichtformale (auch non-formale) Bildung: CAS (Certificate of Advanced Studies), DAS (Diploma of Advanced Studies), MAS (Master of Advanced Studies), Fachkurse, Seminare, Konferenzen und Ähnliches.
- Abschlüsse in der höheren Berufsbildung wie eidgenössische Fachausweise, höhere Fachprüfungen mit eidgenössischem Diplom und Diplome von höheren Fachschulen zählen zur formalen Bildung. Die Vorbereitungskurse auf diese Abschlüsse gehören zur nichtformalen Bildung.
Flexibilität in der Rhetorik
Ein Blick auf aktuelle Stellenausschreibungen zeigt: In der Rhetorik sind viele Unternehmen, Institutionen und HR-Fachleute der Idee der funktionalen Flexibilität verbunden. «Gestaltungsraum», «hohe Eigenverantwortung», «vertrauensvolle Kultur» für «offene und flexible Persönlichkeiten» werden angepriesen. Es ist auch kein Wunder, setzen HR-Fachleute bei der Stellenausschreibung auf Flexibilitätsrhetorik, denn genau das ist es, was die jungen Talente und Fachkräfte suchen. Ob dies nun eine Generationenfrage ist – wie es die vielen Studien zu den Generationen X, Y und Z behaupten – oder vielmehr eine Frage des Lebens- oder Zeitalters, spielt keine Rolle. Moderne Mitarbeitende wünschen sich neben Arbeitsplatzsicherheit, angemessener Entlohnung und organisationaler Flexibilität vor allem auch Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten.2
Und trotzdem sind qualifizierte Berufsleute nach wie vor häufig einem tendenziell starren System unterworfen. Hierarchien und Positionen sind etabliert, Rollen und Stellenprofile sind fixiert, Prozesse sind robust. Es wird grundsätzlich erwartet, dass Mitarbeitende die stets gleichen Leistungen in konstanter Qualität erbringen und dass sie sich in einen gegebenen Rahmen (ein)fügen. Es wird also grundsätzlich Stabilität statt Flexibilität erwartet und gelebt.
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Von der Flexibilisierungsrhetorik zur Flexibilisierungsrealität
Wie gelingt der Sprung von starren zu flexiblen Systemen? Aus Trends wie jenen zu Holacracy, zu agilen Methoden oder zur Teal Organization lassen sich verbindende Elemente herauskristallisieren, die alle auf eine funktionale Flexibilisierung der Arbeitswelt hinwirken:3
- Unkompliziert neue Rollen zulassen, z.B. die Rolle als Trainer/-in, als Coach, als Führungskraft, als Berater/-in, als Projektleitung oder als Mitglied eines neuen Teams.
- Mit Neuem experimentieren und durch Fehler lernen lassen. Das Scheitern akzeptieren, ja sogar provozieren. Nicht nur von «Fehlerkultur» sprechen, sondern sie zelebrieren.
- Kompetenzfelder on the Job, z.B. durch Jobrotation, Shadowing, Peer-Coaching, interprofessionelle Zusammenarbeit öffnen.
- Qualifikationsbemühungen der Mitarbeitenden im formalen und non-formalen Bildungsbereich durch organisationale Flexibilität, durch Zeitgutschriften und finanzielle Unterstützung sowie durch Wertschätzung fördern.
- Weiterqualifizierung und Kompetenzzuwachs mit bereichernden Aufgaben belohnen, vertikale Karriereentwicklungen ermöglichen und Karrieren von Mitarbeitenden aktiv managen.
Im Buch «Flexible Workforce», herausgegeben von Martina Zölch, Marcel Oertig und Victor Calabro, finden sich viele spannende Ansätze zu den diversen aktuellen Trends, HR-Strategien und Rahmenbedingungen in der organisationalen und funktionalen Flexibilisierung.4
Holacracy bezeichnet eine nicht hierarchische Organisationsstruktur und eine optimistische Kollaborationskultur: Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, Verantwortung wird geteilt, und statt Positionen gibt es Rollen. Mit diversen Rollen entwickeln sich die Mitarbeitenden in neuen Kompetenzfeldern.
Agile Methoden umfassen ein Feld definierter Methoden wie z.B. Scrum, aber auch Werte wie Kundenorientierung und Prinzipien wie die kontinuierliche Verbesserung. Teams organisieren sich selbst und geniessen viel Autonomie und Verantwortung ganz ähnlich wie in einer holokratischen Organisation.
Das Konzept der Teal Organization hat viele Überschneidungen mit Holacracy und agilen Methoden. Im Buch «Reinventing Organizations», erschienen 2014, beschreibt Frédéric Laloux eine Organisationsform für Unternehmen, die nicht Macht, Tradition oder Leistung, sondern die Mitarbeitenden und vertrauensvolle Beziehungen ins Zentrum stellt.
Arbeitsflexibilität: Fazit
In einer dynamischen Welt interpretieren HR-Fachleute Arbeitsflexibilität zunehmend auch als Laufbahn durch diverse Kompetenzfelder. Dadurch ziehen Unternehmen Fachkräfte und Talente an und können diese nachhaltig binden. Die meisten dazu eingesetzten Strategien von Rollenflexibilität über Jobrotation bis hin zur Weiterqualifizierung von Mitarbeitenden sind weder neu, exotisch noch unerprobt – trotzdem scheitern sie noch zu oft an starren Systemen, etablierten Hierarchien und Positionen, fixen Rollen und Prozessen. HR-Fachleute sind deshalb in der strategischen Entwicklung der Organisation genauso gefordert wie im Personalmanagement; erfolgreiche Personalentwicklung ist untrennbar mit erfolgreicher Organisationsentwicklung verknüpft.
Fussnoten:
1) Eichhorst, W./Tobsch, V. (2014): Flexible Arbeitswelten, Berlin: Bertelsmann Stiftung.
2) Vgl. dazu z.B. die Generation Z-Studie von Jansen, A./ Odoni, M./Wombacher, J. (2019): Wie lassen sich die besten ehemaligen Auszubildenden im Unternehmen halten? Ansätze für ein erfolgreiches Retention Management der Generation Z, in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 73, S. 193–202, https://link.springer.com/article/10.1007/s41449-018-0119-6
3) Vgl. dazu auch den Beitrag von Göldi und Herzog «Offen bleiben für neue Impulse» im HR-Developer Newsletter 05 vom Mai 2020.
4) Das Buch von Zölch et al. «Flexible Workforce» ist in zweiter Auflage 2020 erschienen. Vgl. auch die Interviews mit den Herausgebenden auf www.flexibleworkforce.ch.