Lerndidaktik: Die Anwendung digitaler Tools

Im Lernkontext wird vielerorts Lerndidaktik als entscheidendes Element für Lernfortschritt betrachtet. Dieses Verdikt gilt insbesondere für die vormals analoge Welt. Doch welche Prinzipen und didaktischen Methoden sind bei der Wissensvermittlung im digitalen Bereich Erfolg versprechend? Ist Didaktik wirklich Schnee von gestern? — eine Spurensuche.

06.01.2025 Von: Marcel Weder
Lerndidaktik

Digitalisierungsexperten wie z.B. Kai Reinhardt bezeugen in ihren Fachschriften, dass bis zu 90% aller digitalen Transformationsvorhaben in Unternehmen heutzutage scheitern. Hinter jeder Digitalisierungsbestrebung verbirgt sich die Absicht der Verantwortlichen, nach erfolgter Organisationstransformation zu gesteigerter Wirtschaftlichkeit zu gelangen. Die jeweiligen Transformationsvorhaben basieren auf einer Wirtschaftlichkeitsplanung mit Zeitverlaufsüberlegungen. Das zusätzlich erwirtschaftete Geld ist der Hauptgrund, um digitale Transformationen von Organisationen entschlossen zu durchschreiten. Stellen sich erwartete wirtschaftliche Verbesserungen für eine digitalisierte Unternehmung nicht im prognostizierten Masse und Zeitraum ein, müssen wir ein Transformationsvorhaben als gescheitert betrachten. Der Schlüssel zur Abwendung solcher digitaler Fehlerfahrungen und zum Erfolg eines Veränderungsvorhabens liegt im seelisch­-sozialen Mitnehmen der Menschen. Wir Menschen sind stets Teil von Veränderungsvorhaben. Damit wir an Transformationsvorhaben methodisch gelingend herangehen können, vergleichen wir nun Ausbildungsmethodenerfahrungen aus der analogen Welt mit digitalen Fehlerfahrungen. 

Lehren aus dem didaktischen Erfolg des Autofahrenlernens

In einer Autofahrschule erfolgt die Ausbildung an Automobilen methodisch-­didaktisch fundiert. Schliesslich steht hier die Sicherheitsdimension für jeden Automobilisten/Verkehrsteilnehmenden im Zentrum, und der Gesetzgeber begegnet diesem Umstand mit grosser Ernsthaftigkeit. Falsch gehandhabt, kann ein Automobil zur Waffe werden, welche Leib und Leben anderer gefährdet. Die zugrunde liegende Autofahrlerndidaktik besteht deshalb aus drei Ausbildungsphasen:

  1. Zunächst verknüpfen wir in der Theorie physikalische Wirkungsweisen von Automobilen mit den gesetzlichen Strassenverkehrsregeln. Daraufhin zeigt und erklärt der Fahrlehrer uns resp. den um ihn gescharten Fahrschülern die Funktionalitäten des Automobils. Wir beginnen als Fahrschüler unsere nun praktische Ausbildung auf dem Beifahrersitz. Der Instrukteur führt uns die Manipulationselemente des Autos wie Lenkrad, Handbremse, Pedale/ Kupplung oder Gangschaltung vor. Dabei verhält sich der Instrukteur aktiv, wir uns als Fahrschüler passiv.
  2. Nun wechseln wir die Rollen. Wir als Fahrschüler führen nun auf dem Fahrersitz unter den kundigen Augen des Instrukteurs Manipulationen aus und sammeln damit Berührungs­ und Handhabungserfahrungen. Dies kommt lerndidaktisch dem Begreifen durch Angreifen gleich.
  3. In der Fahrpraxisphase lässt der Instrukteur uns als Fahrschüler das Automobil erstmals in Bewegung setzen und offiziell fahren. Fortan entwickeln wir über einen langwierigen, oft Geduld bedürfenden Prozess unsere Fahrkompetenzen gemeinsam weiter. Dabei interveniert der Instrukteur in Bedarfssituationen, gibt uns unvermittelt Feedback, was das Lernen fördert. Damit wir als Fahrschüler das Erlernte weiter verinnerlichen und festigen können, erhalten wir überdies ein entsprechendes Bedienreglement zur Hand. So weit der Ablauf des analogen Lernens.

Die trügerische Leichtigkeit digitaler Schulungen

Nun wechseln wir in die digitale Welt. Dazu werfen wir einen Blick auf die Lerndidaktik, die beim Kennenlernen der Funktionen eines Digitaltools zum Einsatz kommt. Mit diesem sollen künftig Ferientage administrativ erfasst werden können. Das Tool ersetzt die bisher verwendeten Word­/Excel­Formulare. Die an der Entwicklung beteiligten Ingenieure laden uns nun zur Onlineschulung ein. Es folgt die aus der Didaktik bestens bekannte Lernabfolge: Zu Beginn wird uns das neu programmierte Digitaltool online vorgestellt, dessen Funktions­/Handhabungsweise erläutert und online konkret demonstriert (Manipulation). Dabei fällt das im Digitalisierungskontext überpräsente Wort einfach gefühlte 40­mal. Mindestens ebenso viele Male wird beteuert, das Digitaltool sei erfolgreich ausgetestet. 

Abschliessend erhalten wir Online-­Lernenden die nötigen Zugangslinks und ­codes sowie eine verlinkte Bedienanleitung. Die Links stehen sinnbildlich für die digitale Hinführung zum parkierten Automobil (aus dem analogen Beispiel). Die Codes sind das Pendant zu den Schlüsseln, um das Automobil aufzusperren und zu aktivieren. Diese Online­-Inthronisierung kommt zeitlich zumeist der Verabschiedung von uns Online-­Lernenden und Beendigung der Onlineschulung gleich. Wir werden weggezappt. Schluss. 

Führen heisst begleiten

In alledem ist augenscheinlich, dass die fehlende Begleitung von Menschen wäh­rend Veränderungen zum Scheitern von Transformationsvorhaben führt. Ein Digi­taltool fachlich programmieren zu kön­nen, bedeutet keineswegs, dass jene Di­gitalerrungenschaft dann von uns Usern auch tatsächlich eigenständig gehand­habt werden kann. Ferner fällt ins Auge, dass wir als User nach erfolgter Digital­tooldemo und de facto An­-Kopf­Werfung von Zugangslinks/­codes und digitaler Bedienungsanleitung während der erst-­mali-g­eigenständigen Digitaltoolnutzung zumeist alleine gelassen sind. Wir Digital­lernenden sind uns selbst überlassen.

Bei genauer Betrachtung fehlen in der di­gitalen Lernwelt von heute weitverbreitet die in der Analogwelt bewährten Lerndi­daktikphasen b) und c). Die Möglichkeit des eigenständigen Manipulierens in Begleitung eines Instrukteurs sowie das gemeinsam­praktische Übenkönnen mit dem Digitaltool, um Erfahrenes/Erlerntes zu festigen, kommt zu kurz. Das ist didaktisch fatal und kommt im analogen Fahrschulbeispiel dem gleich, wie wenn der Fahrlehrer dem Fahrschü­ler nach erfolgter Vordemonstration des Autos Autoschlüssel und Bedien­handbuch übergibt, ihm lediglich «gute Selbstfahrt»

Der Mensch als Elementarteil erfolgreicher Transformationen

Beziehen Sie für das menschengewinnen­de Umsetzen Ihrer digitalen Transformati­on zwingend Ihre Mitarbeitenden mit ein. Dadurch ermöglichen Sie sich als Transfor­mationsverantwortliche sozioprozessuale Nähe und ein den Menschen empathisches Verstehenkönnen. Kompetenzen solcher Art – auch psychologiespezifische – sind bis dato nicht Teil der MINT­Studienfächer. Doch genau diesen Punkt mahnt das «Pro­blemlöse-­Panorama» der Harvard Business School an: Fehler/Probleme und transfor­matorische Herausforderungen können im Extremfall nur zu 5–7% mit Fachwis­sen gelöst werden. Vielmehr ist Lösung des Problems zu 15–20% im Methoden­bereich und in 70–80% der Fälle in der Hinwendung zum Menschen zu finden.

Es ist also folgerichtig, dass Sie sich mit Methoden und dem Menschen einge­hend und prosperierend befassen, um da­mit Qualitätsprobleme zu lösen und Fehler zu eliminieren. Dies gilt umso mehr, wenn Sie Herausforderungen in Transformati­onsvorhaben erfolgreich bewältigen wol­len. Als Entwickler/Trainer digitaler Tools sind Sie deshalb gut beraten, für den Auf­bau von Denk­/Handlungskompetenzen künftigen Usern – Ihren Mitarbeitenden – wohlwollend Lernbegleitung zur Seite zu stellen. Übernehmen Sie dazu bewährte Lerndidaktiken aus dem Analogzeitalter in die neue, digitale Welt von heute, und Sie werden transformationserfolgreich sein.

  • Der Schlüssel für den Erfolg eines Veränderungsvorhabens liegt im seelisch sozialen Mitnehmen der Menschen in die Transformation.
  • User werden während der erstmalig eigenständigen Digitaltoolnutzung zumeist sich selbst überlassen.
  • Dieses Nichtbegleiten ist häufig ursächlich für das Scheitern digitaler Transformationsvorhaben in Unternehmen.
  • Arbeits-/Sozialforschung fördern zutage, dass die Hauptwirkung zur Lösung und Verursachung von Problemen/Herausforderungen zu 70–80% von der Komponente Mensch ausgeht.
  • Menschennahe, psychologiespezifische Studieninhalte sind bis dato nicht Teil der naturwissenschaftlich-ingenieursspezifischen Studiencurricula.
  • Entwickler/Trainer digitaler Tools sind gut beraten, für den Aufbau von Denk- und Handlungskompetenzen künftigen Usern wohlwollende Lernbegleitung zuzugestehen.
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