Grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse: Sozialversicherungsrechtliche Herausforderungen und Lösungen

Mittlerweile beschäftigen zahlreiche in der Schweiz ansässige Unternehmen Personen, die ihren Wohnsitz im Ausland haben sowie in mehr als einem Staat erwerbstätig sind. Grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse bringen jedoch rechtliche und tatsächliche Herausforderungen mit sich. Nachstehend wird dies insbesondere im Hinblick auf das Sozialversicherungsrecht näher erläutert.

03.12.2024 Von: Stephan Fischer
Grenzueberschreitende Arbeitsverhaeltnisse

Begriffserklärung

Eine Mehrfachtätigkeit liegt vor, wenn eine Person gewöhnlich in zwei oder mehreren Staaten für einen oder mehrere Arbeitgeber erwerbstätig ist. Zu beachten ist, dass die Arbeitsleistung grundsätzlich gleichzeitig, abwechselnd und regelmässig erfolgt. Einmalige Arbeitsleistungen werden dabei nicht berücksichtigt.

ACHTUNG 
Für die Annahme einer Mehrfachtätigkeit kann bereits eine Verwaltungsratstätigkeit in einem anderen Staat genügen.

Grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse: Unterschied von der zur Entsendung

Von einer Entsendung ist die Rede, wenn der Arbeitgeber die Arbeitnehmer für einen bestimmten Zeitraum zum Arbeiten in einen anderen Staat entsendet, in dem er weder seinen Sitz hat noch gewöhnlich Arbeit verrichtet. Grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse unterscheiden sich hier deutlich, da die Tätigkeit in mehreren Staaten erfolgt und dabei die sozialversicherungsrechtliche Unterstellung besonders zu prüfen ist.

Im Unterschied zur Mehrfachtätigkeit kennzeichnet sich die Entsendung dadurch, dass die Arbeitnehmer während der Dauer der Entsendung von der Versicherungspflicht im Einsatzstaat befreit sind. Somit bleiben die Arbeitnehmer während der Entsendung weiterhin im Entsendestaat versichert. Einen weiteren Unterschied bildet der Umstand, dass die Arbeitnehmer bei der Entsendung grundsätzlich keiner weiteren Tätigkeit im Einsatzstaat nachgehen und sich damit lediglich in einem einzigen Arbeitsverhältnis befinden. Sollten die Arbeitnehmer eine weitere Tätigkeit in einem weiteren Staat aufnehmen, kommen die Regeln zur Mehrfachtätigkeit zur Anwendung. In der Folge muss erneut geprüft werden, welchem Staat die entsprechende Person sozialversicherungsrechtlich unterstellt ist.

Sozialversicherungen

Grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse erfordern eine internationale Koordination der sozialversicherungsrechtlichen Unterstellung. Grundsätzlich sind Personen, die in der Schweiz erwerbstätig sind, auch in der Schweiz versichert. Im Verhältnis zur EU und der EFTA gilt somit grundsätzlich das Erwerbsortsprinzip, was jedoch die Konsequenz hätte, dass eine Person in jedem Staat der Erwerbstätigkeit versichert wäre. Damit die sozialversicherungsrechtliche Unterstellung einer von der Mehrfachtätigkeit betroffenen Person international koordiniert werden kann, hat die Schweiz mit zahlreichen Staaten Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen. Im Vordergrund steht dabei das Abkommen mit der EU und der EFTA. Die mit diversen Staaten abgeschlossenen Sozialversicherungsabkommen bezwecken, dass Versicherte trotz einer Mehrfachtätigkeit in verschiedenen Staaten sozialversicherungsrechtlich nur einem Staat unterstellt sind. Darüber hinaus besteht zwischen den Mitgliedstaaten eine gegenseitige Beitrags- und Abrechnungspflicht. Die Arbeitgeber sind dazu verpflichtet, mit den entsprechenden Beitragssätzen des zuständigen Staats und der zuständigen Behörde abzurechnen.

ACHTUNG 
Für Drittstaatsangehörige ist die sozialversicherungsrechtliche Unterstellung gesondert zu prüfen. Eine Vielzahl von Abkommen tangiert lediglich die Staatsangehörigen der Vertrags- bzw. Mitgliedstaaten.

Leitet eine Person ein Unternehmen mit Sitz in der Schweiz, wird diese gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung sozialversicherungsrechtlich so behandelt, wie wenn sie in der Schweiz erwerbstätig wäre. Für diese Qualifikation muss die Person in der Schweiz auch effektiv Arbeiten ausführen.

HINWEIS 
Sofern eine Person auf dem Gebiet von zwei oder mehreren Staaten eine Erwerbstätigkeit ausübt, hat sie die zuständige Ausgleichskasse darüber zu informieren. Betreffend die Versicherungs- und Beitragspflicht wird die Ausgleichskasse die Sachlage direkt mit dem Arbeitnehmer abklären.

Wesentlichkeit der Erwerbstätigkeit

Für die sozialversicherungsrechtliche Unterstellung ist massgeblich, ob ein wesentlicher Teil, somit ein quantitativ erheblicher Teil der Erwerbstätigkeit im Wohnsitzstaat ausgeübt wird. Dafür muss mindestens 25% des Lohns oder der Gesamttätigkeit auf den Wohnsitzstaat entfallen, damit der Arbeitnehmer nur im Wohnsitzstaat versichert ist. Der Arbeitnehmer wird damit so behandelt, wie wenn er seine gesamten Einkünfte in einem Staat erzielen würde. In der Schweiz nimmt die Ausgleichskasse die Beurteilung der wesentlichen Erwerbstätigkeit vor.

PRAXISBEISPIEL 
Der Deutsche Ulrich arbeitet zu 90% als Bodenleger in Zürich (CH) und führt zusätzlich in einem Pensum von rund 10% Hauswartsarbeiten an seinem Wohnsitz in Konstanz (DE) durch. Die Tätigkeit als Hauswart beträgt lediglich 10%, sodass er an seinem Wohnsitz keine wesentliche Tätigkeit ausübt und demnach einzig in der Schweiz versichert ist.

ACHTUNG 
Arbeitet eine Person lediglich Teilzeit, sind die Beurteilung der Wesentlichkeit sowie die 25% im Verhältnis zum Gesamtpensum umzurechnen.

Ein Arbeitgeber – mehrere Staaten

Wird eine Person lediglich für einen Arbeitgeber in mehreren Staaten tätig und übt dazu keine wesentliche Tätigkeit im Wohnsitzstaat aus, so ist sie im Sitzstaat ihres Arbeitgebers versichert. Fällt die wesentliche Tätigkeit auf ihren Wohnsitzstaat, so ist sie im Wohnsitzstaat versichert.

Mehrere Arbeitgeber – mehrere Staaten

Ist das Wesentlichkeitskriterium von 25% nicht erfüllt, so verschiebt sich die sozialversicherungsrechtliche Unterstellung vom Wohnsitzstaat des Arbeitnehmers zum Sitzstaat des Arbeitgebers.

Selbstständige Erwerbstätigkeit

Für die Mehrfachtätigkeit muss ein Selbstständigerwerbender gewöhnlich in zwei oder mehreren EU- oder EFTA-Staaten eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben. Die Tätigkeiten haben nicht identisch zu sein und können ebenfalls abwechselnd erfolgen. Die Art der Tätigkeit ist dabei nicht von Relevanz. Marginale bzw. einmalige Arbeitsleistungen sind für die Beurteilung einer Mehrfachtätigkeit jedoch nicht beizuziehen. Für die selbstständigen Personen gilt, dass sie bei einer wesentlichen Erwerbstätigkeit an ihrem Wohnsitz im Wohnsitzstaat versichert sind. Ist die Tätigkeit am Wohnsitz nicht wesentlich, so ist die selbstständige Person sozialversicherungsrechtlich dem Staat an ihrem hauptsächlichen Erwerbsort unterstellt. Für die Beurteilung der Wesentlichkeit können die für die unselbstständig erwerbenden Personen geltenden Kriterien herbeigezogen werden.

Eine Ausnahme von der 25-%-Regel bildet der Umstand, wenn eine Person in einem Mitgliedstaat der EU bzw. EFTA eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und zeitgleich in einem anderen Mitgliedstaat einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgeht. In solchen Konstellationen ist die Person in jenem Staat versichert, in dem sie unselbstständig erwerbstätig ist.

ACHTUNG 
Selbstständige Drittstaatsangehörige, die einen Wohnsitz in der Schweiz haben, jedoch in einem EU- bzw. EFTA-Staat tätig sind, sind sozialversicherungsrechtlich grundsätzlich ebenfalls dem Staat unterstellt, in welchem sie die Arbeitsleistungen erbringen. Sofern kein Sozialversicherungsabkommen einschlägig ist, wird grundsätzlich auf das allgemeine Erwerbsortsprinzip Bezug genommen. Diese Beurteilung muss jedoch im Verhältnis zu jedem Staat gesondert vorgenommen werden.

Familienzulagen

Auch betreffend die Familienzulagen wird grundsätzlich an die Erwerbstätigkeit bzw. an den Erwerbsort geknüpft, an welchem die Tätigkeit ausgeübt wird. Wenn die Elternteile jeweils in verschiedenen Staaten arbeiten oder ein Elternteil mehrere Arbeitgeber in verschiedenen Staaten hat, so ist zu prüfen, ob der Sitz eines Arbeitgebers auf den Wohnsitzstaat der Kinder fällt. Sollte dies der Fall sein, sind die Familienzulagen primär im Wohnsitzstaat der Kinder auszurichten.

Werden in der Schweiz AHV-Beiträge abgerechnet, hat der Arbeitnehmer ebenfalls Anspruch auf Familienzulagen. Hat der Arbeitnehmer jedoch seinen Wohnsitz in einem EU- bzw. EFTA-Staat und wurden von diesem bereits Familienzulagen ausbezahlt, besteht ein Anspruch in der Schweiz nur, wenn die in der Schweiz ausgerichteten Familienzulagen diejenigen im Wohnsitzstaat übersteigen. Liegt eine Erwerbstätigkeit in mehreren Staaten vor, kommt eine Differenzzahlung infrage, wenn die Familienzulagen im nachrangig zuständigen Staat höher sind.

Fragen & Antworten zur Mehrfachtätigkeit

1. Was versteht man unter Mehrfachtätigkeit? 
Mehrfachtätigkeit liegt vor, wenn eine Person gewöhnlich in zwei oder mehreren Staaten für einen oder mehrere Arbeitgeber arbeitet. Dies schliesst abwechselnde oder gleichzeitig erbrachte Tätigkeiten ein, jedoch keine einmaligen Arbeitsleistungen.

2. Wie unterscheidet sich die Mehrfachtätigkeit von einer Entsendung? 
Eine Entsendung erfolgt, wenn ein Arbeitgeber seine Arbeitnehmer für eine begrenzte Zeit in ein anderes Land schickt, ohne dass der Arbeitnehmer dort regulär tätig ist. Im Unterschied zur Mehrfachtätigkeit bleibt der Arbeitnehmer während der Entsendung im Ursprungsland versichert.

3. Welche Regelungen gelten im Sozialversicherungsrecht bei Mehrfachtätigkeit? 
Grundsätzlich sind Personen in dem Land sozialversichert, in dem sie arbeiten. Bei Mehrfachtätigkeiten sollen durch Abkommen, z.B. mit der EU und EFTA, Doppelversicherungen vermieden werden, sodass die betroffene Person nur einem Staat unterstellt ist.

4. Was passiert, wenn eine Person in ihrem Wohnsitzstaat eine wesentliche Erwerbstätigkeit ausübt? 
Wenn mindestens 25% der Tätigkeit im Wohnsitzstaat ausgeübt werden, bleibt der Arbeitnehmer in diesem Staat versichert, unabhängig davon, ob er in anderen Staaten tätig ist.

5. Wie werden Personen mit einem Arbeitgeber, aber mehreren Tätigkeitsstaaten versicherungstechnisch behandelt? 
Ist keine wesentliche Tätigkeit im Wohnsitzstaat vorhanden, ist die Person im Staat des Sitzes des Arbeitgebers versichert. Liegt eine wesentliche Tätigkeit im Wohnsitzstaat vor, gilt die Versicherung im Wohnsitzstaat.

6. Was ist bei mehreren Arbeitgebern in verschiedenen Staaten zu beachten? 
Wenn das 25-%-Kriterium nicht erfüllt ist, verschiebt sich die Versicherungspflicht vom Wohnsitzstaat zum Sitzstaat des Arbeitgebers.

7. Was gilt für Selbstständige, die in mehreren Staaten tätig sind? 
Selbstständige, die in mehreren Staaten tätig sind, sind in ihrem Wohnsitzstaat versichert, wenn sie dort eine wesentliche Tätigkeit ausüben. Andernfalls gilt die Versicherung im Staat des hauptsächlichen Erwerbsorts.

8. Gibt es Ausnahmen zur 25-%-Regelung für Selbstständige? 
Ja, wenn eine Person in einem Staat eine selbstständige Tätigkeit und in einem anderen eine unselbstständige Tätigkeit ausübt, ist sie in dem Staat versichert, in dem sie unselbstständig tätig ist.

9. Welche Regelungen gelten für Drittstaatsangehörige? 
Drittstaatsangehörige sind grundsätzlich in dem Staat sozialversichert, in dem sie ihre Arbeitsleistungen erbringen. Die Regelungen können jedoch abweichen, wenn ein Sozialversicherungsabkommen vorliegt.

10. Wie wird die Auszahlung von Familienzulagen bei Mehrfachtätigkeit geregelt? 
Familienzulagen richten sich nach dem Erwerbsort der Elternteile. Wenn beide Eltern in verschiedenen Staaten arbeiten, wird geprüft, ob der Sitz eines Arbeitgebers im Wohnsitzstaat der Kinder liegt. In der Schweiz besteht ein Anspruch auf Differenzzahlung, wenn die Schweizer Zulagen höher sind als die im Wohnsitzstaat.

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