Krisenmanagement im Unternehmen: So bleiben Mitarbeitende gesund und handlungsfähig

Viele Unternehmen und Organisationen durchleben gerade turbulente wirtschaftliche Phasen bis hin zu existenzbedrohenden Krisen. Ein gutes und professionelles Krisenmanagement im Unternehmen kann zwar nicht die Härte der Situation aufheben, aber es kann unnötige Eskalationen und Polarisierungen auf ein Minimum beschränken und damit die beteiligten Mitarbeiter, die oft schon an Belastbarkeitsgrenzen agieren, nicht noch zusätzlich belasten.

27.10.2022 Von: Matthias K. Hettl
Krisenmanagement im Unternehmen

Darüber hinaus hat diese Situation auch eine ethische Komponente. Werden in der Krise die Messer gewetzt, oder investiert eine Organisation trotz aller Härten in einen menschlichen Umgang miteinander und mit der Situation? Es ist aus organisatorischer Sicht interessant, sich mit Konzepten zu beschäftigen, die helfen, das Krisenmanagement im Unternehmen besser zu verstehen, und hilfreiche Antworten geben, wie in solchen Situationen miteinander umzugehen ist. Das Konzept der Salutogenese ist hier ein hilfreicher Ansatz.

Salutogenese

Der israeIische Medizinsoziologe Aaron Antonowsky untersuchte in einem Projekt die Adaptation von Frauen verschiedener ethnischer Gruppen in Israel an das Klimakterium und erhob vielfältige Daten zum psychischen und physischen Wohlbefinden. Daneben wurde auch eine Frage zum Aufenthalt in einem Konzentrationslager gestellt. Er stellte fest, dass 29% der Überlebenden eines Konzentrationslagers eine gute physische und psychische Gesundheit aufwiesen.

«Den absolut unvorstellbaren Horror des Lagers durchgestanden zu haben, anschliessend jahrelang ein deplatzierter Mensch gewesen zu sein, und sich dann ein neues Leben in einem Land neu aufgebaut zu haben, das drei Kriege erlebte und dennoch in einem angemessenen Gesundheitszustand zu sein! Dies war für mich die dramatische Erfahrung, die mich bewusst auf den Weg brachte, das zu formulieren, was ich später als das salutogenetische Modell bezeichnet habe und das 1979 in Health, Stress and Coping veröffentlicht wurde» (Antonowsky, 1997).

In diesen und weiteren Untersuchungen ging Antonowsky der Frage nach, ob es Muster, Verhaltenstendenzen, Einstellungen o.Ä. gibt, die es erklären können, warum Menschen nach starken Traumata gesunden und ein stabiles Leben führen können.

Er fand drei Faktoren, die er in seinem Konzept des Kohärenzgefühls (sense of coherence) zusammenfasste: Sie waren regelmässig bei gesundheitlich stabilen traumatisierten Menschen stärker ausgeprägt als bei traumatisierten Menschen, die unter verschiedenen psychischen und physischen Problemen litten.

Verstehbarkeit

Zum einen erkannte er die «Verstehbarkeit» als wichtigen Faktor. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Ereignisse einordnen zu können, über Erklärungen zu verfügen, warum etwas so kommt, wie es kommt. Das heisst einfach ausgedrückt, Menschen, die die Ereignisse in einen Kontext einordnen können, wissen, warum etwas so ist und nicht anders, bewältigen traumatische Erfahrungen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit besser als Menschen, für die die Ereignisse ein überraschendes, unübersichtliches, ungeordnetes und zufälliges Durcheinander darstellen, das sie kognitiv nicht erfassen können.

Handhabbarkeit

Der zweite Faktor war die «Handhabbarkeit». Diese fügt dem kognitiven Aspekt des Verstehens eine aktionale Komponente bei. Wer in schwierigen Situationen Handlungsressourcen entdeckt und wahrnimmt, kann diese eher bewältigen als jemand, der sich in eine hilflose Opferrolle gedrängt fühlt. Denken Sie an die Beispiele von Menschen, die im Holocaust mit anderen zusammen Musik machten, Zeichenkurse für Kinder gaben, Leidensgenossen halfen oder Untergrundnetze aufbauten. Sie alle suchten nach minimalen Handlungsmöglichkeiten in unvorstellbar grausamen Lebensumständen und nutzten diese.

Bedeutsamkeit

Die Bedeutsamkeit war der dritte Faktor. Der im Bezug zum Holocaust vielleicht am schwierigsten zu verstehende Faktor meint die Fähigkeit, dem Geschehen einen wie auch immer gearteten Sinn zuzuweisen, eine bedeutsame Sinngebung zu finden.

Dies beinhaltet die emotional-motivationale Seite menschlichen Erlebens: Die Verankerung in einer Sinngebung scheint dazu beizutragen, dass Menschen nach Traumatisierungen wieder gesunden können. Es gab viele Menschen, die aus Religion, aus politischen Überzeugungen, aus humanistischen Werthaltungen eine Sinngebung für sich entwickeln konnten

Antonowsky entwickelte dieses Konzept weiter in ein Konzept der Entstehung und Erhaltung von Gesundheit (wörtlich: Salutogenese), soweit dies im menschlichen Einflussbereich liegt. Umfangreiche Forschungen in der Folge mit unterschiedlichsten Zielgruppen bestätigten dieses Konzept immer wieder, ebenso berichten Praktiker über hohe Nutzeffekte in der Anwendung beispielsweise in medizinischen Kontexten.

Salutogenese und Krisenmanagement im Unternehmen

Das Konzept der Salutogenese gibt auch sehr wertvolle Hinweise für die Gestaltung von Veränderungsprozessen in Unternehmen. Die zentralen Fragen jedes Managements in schwierigen Zei­ten sind: Welche Haltungen und Ein­stellungen befähigen Mitarbeiterinnen, in schwierigen und krisenhaften Situa­tionen gesund und handlungsfähig zu bleiben, eher zukunftsorientiert anzu­packen und zu gestalten, als in einem Opferlamento zu versinken?

Wie entsteht Sicherheit beim Driften in ungewissen und unübersichtlichen Kontexten? Und was kann/muss das Management dazu tun, um diese Hal­tungen und Bedingungen zu fördern?

Information, verstehen können

Nur informierte Mitarbeiterinnen sind in der Lage, die Situation richtig einzu­schätzen und auch das richtige zu tun. Information ist Grundlage für kompe­tentes Handeln. Das Salutogenese-Konzept der Versteh barkeit verweist einmal mehr auf die Bedeutung einer offenen Informationspolitik. Dies steht häufig im krassen Gegensatz zur betrieblichen Praxis, was oft nicht einmal böswillig ge­schieht.

Man hört dann Begründungen wie: «Mitarbeiter dürfen nicht beunruhigt werden» (gerade das beunruhigt vie­le Mitarbeiterinnen ausserordentlich), oder «Erst wenn alle Faktoren geklärt sind, können wir an die Öffentlichkeit gehen» (was dann dazu führt, dass die Mitarbeiter das Wesentliche aus der Presse und Gerüchten erfahren, was unweigerlich die Gerüchteküche an­heizt). Die Folge ist, dass ein grosser Teil der Produktivität in Orientierungs­versuche und Informationsbeschaffung und -bewertung fliesst.

Führungskräfte müssen über ihren Schatten springen

Es ist daher ratsam, dass Führungskräf­te über ihren Schatten springen und Informationen früher und umfassender veröffentlichen, als sie es üblicherweise tun. Es geht dabei nicht darum, stän­dig über ungelegte Eier zu gackern, sondern darum, gefällte Entscheidun­gen zeitnah, Unangenehmes offen und deutlich zu kommunizieren und auch die Unabwägbarkeiten klar zu benen­nen. Gerade vor diesem letzten Punkt scheuen viele Führungskräfte zurück. Doch wird das in den Gesprächen auf allen Ebenen eines Unternehmens im­mer wieder betont: Mitarbeiter wie Füh­rungskräfte wollen klare Informationen, auch dann, wenn es Härten und Zumu­tungen betrifft.

Die Erfahrung zeigt häufig, dass dies eher zur Beruhigung führt und Energien für die anstehenden Aufgaben freisetzt. Sinn und Bedeutung erkennende Men­schen handeln sicherer und kompeten­ter, wenn sie in dem Vorgehen einen Sinn erkennen können, mit dem (oder mit Teilaspekten davon) sie sich identifi­zieren können.

Wenn Mitarbeitende die Haltung entwi­ckeln, «dass wenigstens einige der Pro­bleme und Anforderungen es wert sind, dass man Energie in sie investiert, dass man sich für sie einsetzt und sich ihnen verpflichtet» (Antonowsky, 1997), kann motiviertes Handeln entstehen. Das setzt voraus, dass in dem unternehme­rischen Handeln auch für Mitarbeiter nachvollziehbare Sinnbezüge enthalten sind. Und es verlangt danach, die werteorientierte und strategische Ausrich­tung des Handelns zu verdeutlichen und in dem zur Verfügung stehenden Rahmen Mitarbeiter daran zu beteili­gen.

Mitgestaltung und handeln können

Jeder, der als Kind Fahrrad fahren gelernt hat, hat die erstaunliche Fest­stellung gemacht, dass man auf uner­hört schmalen Reifen nicht umkippt, sondern eine hohe Stabilität erreichen kann. Das geht aber nur in der Bewe­gung. Und so lautet eine Antwort auf die Frage: «Wie entsteht Sicherheit, wenn durch die Veränderungen die gewohn­ten Sicherheiten zerbröseln?»: Sicher­heit entsteht auch in der Bewegung, im Handeln, im Gestalten der Veränderun­gen.

Es ist eine psychologisch recht gut un­tersuchte Variable, dass die Möglichkeit der Einflussnahme und aktiven Gestal­tung (oft reicht schon die Überzeugung) hohe Bedeutsamkeit für psychische und physische Stabilität hat.

In unseren Projekten achten wir darauf, dass realistische und belastbare Zusa­gen für Mitwirkung und Handeln gege­ben werden. Mitgestalten zu können und Ergebnisse zu sehen, bahnt den Weg für weiteres motiviertes Handeln. Daher ist eine schnelle und frühzeitige Handlungsorientierung ein Erfolgsga­rant.

Empfehlenswert ist eine Art Doppelstra­tegie, in der kurzfristige konkrete Hand­lungsschritte parallel und verzahnt mit langfristig angelegten strategischen Weichenstellungen bearbeitet werden.

Zugehörigkeit und Austausch

Dieser Punkt, der bei Antonowsky nicht vorkommt, ist aufgrund der Beobach­tungen aus der Praxis wichtig. Denn immer wieder gab es Rückmeldung aus Workshops, wie gut und wohltuend es gewesen sei, über all die anstehenden Dinge zu sprechen, von anderen eben­falls Unsicherheiten, Befürchtungen zu hören. Man fühle sich danach nicht mehr so allein mit den eigenen Gefüh­len, und schon allein das sei erleich­ternd.

Nun ist das in den handlungsorien­tierten Unternehmenskontexten nicht gerade ein hoch bewerteter Punkt. Im Gegenteil wird das eher bewitzelt, nach der Devise: «Wie viel Uhr ist es?» «Ich weiss es auch nicht, aber schön, dass wir so offen darüber geredet haben!»

Aber es lohnt sich, genauer hinzuschau­en. Krisenverhalten in Unternehmen und anderen Kontexten ist oft durch Hektik, Aktionismus und Vereinzelung gekennzeichnet. Jeder versucht, so gut wie möglich Eigenes zu retten, bisher stabile Formen der Kooperation und der gegenseitigen Unterstützung erodieren. Dazu tragen auch die aus vielerlei Quel­len gespeisten Konflikte bei, die häufige Begleitmusik in Veränderungsprozes­sen sind.

Andererseits gibt es in vielen tierischen Lebensformen, wie auch beim Men­schen, die Tendenz, in Gefahrensitua­tionen die Nähe anderer zu suchen, der sogenannte Herden- oder Gesellungstrieb. Nicht nur deswegen ist es wichtig, bei den obigen Rückmeldun­gen aufmerksam zuzuhören und die­se ernst zu nehmen. Das Gefühl von Zugehörigkeit und des Austausches kann gerade dann, wenn andere Si­cherheiten verschwinden, ein wichtiger sicherheitsstiftender Faktor werden. Gemeinsam etwas tun und den Ver­lauf der Dinge beeinflussen zu können. Dies wird immer wieder als wichtige stützende Erfahrung in Veränderungs­projekten benannt, gerade wenn es darum geht, über weite Strecken Unsi­cherheit und Frustrierendes aushalten zu müssen.

Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Sie in kritischen Situationen bewusst darauf achten, Raum für Gemein­schaftserfahrungen zu schaffen. Denn dies ist ein weiterer erfolgskritischer Faktor für das Gelingen von anspruchs­vollen Entwicklungsprojekten.

Menschen und menschliche Syste­me sind lebende Systeme. Sie können nicht wie Maschinen behandelt wer­den, nicht nach mechanischen Prinzi­pien geführt werden. Wir schaffen und brauchen Sinnbezüge, Möglichkeiten, das Geschehen zu verstehen, und die Gelegenheiten, uns mit anderen aus­tauschen zu können und handeln zu können.

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