Führung in der Unsicherheit: So schaffen Sie Vertrauen unter Spannung

Wir befinden uns schon heute in einer VUKA-Welt, doch mit Blick auf die zunehmenden Krisen wird das U für Unsicherheit exorbitant gross. Die aus dieser unsicheren Welt resultierenden Handlungsnotwendigkeiten treffen heute auf unsere bestehenden, oft noch zu starren Systeme in Unternehmen, sodass es zunehmend zu Spannungsfeldern kommt. Unternehmen sind z.B. konfrontiert mit dem Balanceakt zwischen Innovation und Effizienz im Kerngeschäft, dem Austarieren von Agilität und Stabilität oder dem scheinbaren Widerspruch von Lernen durch Scheitern und Nullfehlertoleranz. Diese und andere Spannungsfelder sind nicht über ein Entweder-oder zu lösen, sondern über einen holistischen Denkansatz nutzbar zu machen. Führungskräfte sind das Zünglein an der Waage, wenn es darum geht, Mitarbeitende zu befähigen und Kontrolle zugunsten von Vertrauen in die Mitarbeitenden abzugeben.

18.01.2023 Von: Sandra Berenbold, Meike Wiemann-Hügler
Führung in der Unsicherheit

Diskussionsrunde mit Dr. Sandra Berenbold und Dr. Meike Wiemann-Hügler

Die Welt heute und die von morgen: Wo sehen Sie aktuell die grössten Unterschiede?

Sandra Berenbold: Wir befinden uns heute bereits in der VUKA-Welt. Alles muss noch schneller gehen, vieles ist unsicherer, komplexer oder mehrdeutiger geworden. Im Grunde hat sich in der jüngsten Vergangenheit jedoch ein Faktor noch mehr verstärkt als die anderen, und das ist die «Unsicherheit». Wir befinden uns also bereits in einer VUKA-Welt mit exorbitant grossem «U»: Im Vordergrund steht heute und vermutlich auch in Zukunft der Umgang mit Krisen. Mit der VUKA-Welt haben wir teilweise gelernt zu leben und erste Antworten auf diese gefunden, beispielsweise durch agiles Arbeiten. Aktuell jagt jedoch eine Krise die nächste, und Unternehmen werden in einen nicht bekannten Survival-Modus geworfen. Die Coronapandemie oder auch die geopolitische Lage haben fundamentale Annahmen des wirtschaftlichen Handelns auf den Kopf gestellt. Wir befinden uns plötzlich in einer absoluten Disruption von Grundannahmen und von bisherigen Spielregeln organisatorischen Handelns.

Dr. Meike Wiemann-Hügler: Fazit daraus ist, dass die Umweltanforderungen nicht nur volatiler werden und eine schnellere Anpassungsfähigkeit notwendig machen, sondern auch, dass wir Krisen nur durch wohlüberlegtes Handeln überstehen. Deshalb reicht es nicht, dass wir agil sind und entsprechend in kürzeren Zyklen planen, neue Änderungen miteinpreisen und durch diese ständigen Anpassungen versuchen zu bestehen. In Krisen müssen wir in der Unsicherheit navigieren und uns womöglich komplett neu erfinden, uns manchmal mutig und radikal umentscheiden – da reicht Agilität alleine nicht mehr aus. Sogenanntes Unlearning muss erlaubt sein, d.h., dass nicht nur Neues gelernt wird, was für eine veränderte Situation notwendig ist, sondern dass bisher erfolgreiche Prozesse und Verhaltensweisen auch wieder komplett infrage gestellt werden dürfen und unter Umständen aktiv wieder «verlernt» werden müssen.

Sie beobachten also, dass die heutige VUKA-Welt mit grossem U Spannungsfelder auslöst. Wie genau sehen solche Spannungsfelder aus?

Dr. Sandra Berenbold: Ja, wir gehen stark davon aus, dass die angesprochenen Spannungen noch weiter zunehmen werden, je mehr die Unsicherheit steigt. So beschäftigt Unternehmen nicht erst seit gestern z.B. der Balanceakt zwischen Innovation und Effizienz im Kerngeschäft, der Spagat zwischen Agilität und Stabilität oder der scheinbare Widerspruch zwischen Lernen durch Scheitern und Nullfehlertoleranz. Oft steht im Zentrum solcher Spannungsfelder, dass auf der einen Seite schnell gehandelt werden muss, auf der anderen Seite aber – vor allem in streng regulierten Umfeldern – Regularien eingehalten werden müssen, die Garanten für Stabilität und Sicherheit sind. 

Die Spannungsfelder machen es nötiger denn je, dass Unternehmen möglichst offen und flexibel reagieren. In einer unsicheren Welt gilt es, im richtigen Moment die richtigen Antworten aus den vorhandenen Möglichkeiten auszuloten und adaptiv zu sein. Es gibt kein Richtig und Falsch mehr, kein Entweder-oder. Es braucht neben dem angesprochenen Unlearning auch den Mut, auszuprobieren oder zu experimentieren und, falls nötig, schnelle und, wenn nötig, radikale Kursänderungen vorzunehmen. Jedoch sind Unternehmen oftmals in ihrer Flexibilität beschränkt, gerade wenn es darum geht, das Wissen aller für die richtigen Entscheidungen nutzbar zu machen.

Viele Unternehmen sind darauf eingestellt, alles alleinig mit einer guten Planung und einem sauberen Forecasting zu lösen. Doch in der Welt von heute muss man ständig mit nicht planbaren Überraschungen rechnen. Die bestehenden Strukturen stehen also den Anforderungen einer unsicheren Welt im Wege. Es bedarf einer langfristigen Transformation und eines Umbaus von Unternehmen hin zu Strukturen, die schnellere, marktorientierte und dabei höchst qualifizierte, divers reflektierte Entscheidungen leicht machen. Viele Organisationen sind auf diesem Wege Richtung agiler Organisation, Holokaratie oder Soziokratie. Andere können auf solch eine strukturelle Transformation aber keinesfalls warten. Deswegen stellt sich die Frage, wie man innerhalb bestehender Strukturen so agieren kann, dass eine maximale Flexibilität und Anpassungsfähigkeit ermöglicht wird. Hier kommen die Mitarbeitenden, deren Mut und Bereitschaft, sich einzubringen, und Umgang mit Fehlern ins Spiel.

Wichtig ist jetzt, dass Unternehmen nicht den Fehler machen zu denken, dass die heutige krisengeschüttelte Zeit nur eine Phase ist. Dies war in der Coronapandemie oftmals der Fall. Manche Unternehmen haben angenommen, dass sie die Pandemie aussitzen und danach wieder in das altbewährte System zurückkehren können. Unternehmen müssen nun anerkennen, dass es kein Zurück mehr aus dem «Neuen Normal» gibt. Vielmehr müssen sie sich Fragen stellen wie: «Was sind die neuen Spielregeln, und wie kann ich mich als Unternehmen entsprechend neu organisieren?» «Was muss ich als Unternehmen neu lernen oder sogar verlernen, um neue Chancen zur realisieren?» «Wie muss ich meine Mitarbeitenden in Zukunft beteiligen und führen, um Potenziale auszuschöpfen?» Unternehmen, welche auch nach den Pandemiephasen Teilzeitmodelle, Homeoffice oder flexible Arbeitsformen für ihre Mitarbeitenden aufrechterhalten haben, haben genau dieses Lernen vollzogen. Sie haben die Krise genutzt, um daraus langfristig gestärkt herauszugehen. Diese Haltung ist eine Grundvoraussetzung, um in der Welt von morgen als Unternehmen weiter existieren zu können.

Sie haben argumentiert, dass nicht ein Entweder-oder, sondern ein UND die Antwort auf diese Spannungsfelder ist – wie ist das konkret gemeint?

Dr. Sandra Berenbold: Es wird in Zukunft nicht mehr die eine richtige Lösung geben. Unternehmerisches Handeln wird geprägt sein von einem ständigen Austarieren von Spannungsfelder. Wir müssen weiterhin vorausschauend agieren und können die Planung sicher nicht ganz über Bord werfen, auch wenn wir schnell mit Lösungen aufwarten müssen. Wir müssen also bereit dazu sein, unsere Strategien oder Entscheidungen schnell umzuwerfen, iterativ auszuprobieren, und zudem immer wachsam und auf alles gefasst sein. Das klingt herausfordernd, bietet aber auch ein grosses Potenzial zu mehr Handlungsstärke. Wenn Unternehmen diesen Zustand als «Neues Normal» anerkennen, werden sie viel beweglicher, als sie es heute sind. Sie eröffnen sich neue Möglichkeiten, da sie Lösungen nicht von vorneherein ausschliessen oder als nicht möglich erachten. Innerhalb von Unternehmen bedeutet das auch, dass man den unterschiedlichen Blick verschiedener Fachbereiche wertschätzen und auf Basis aller Perspektiven ergebnisoffen in die Entscheidungsfindung gehen muss.

Kommen wir nun noch zu Vertrauen – ein Thema, zu welchem Sie selbst an der HSG auch forschen und lehren. Warum ist Vertrauen denn eigentlich so wichtig? Wie hilft dieses dabei, die richtigen Entscheidungen innerhalb der angesprochenen Spannungsfelder zu treffen?

Dr. Meike Wiemann-Hügler: Wir brauchen «resourceful humans», d.h. fähige, motivierte und dabei vor allem auch achtsame Mitarbeitende, um Krisen zu meistern. Absolut jede Fähigkeit, jede Perspektive und jede Meinung zählt, um das grosse Ganze und Situationen erst einmal erfolgreich zu begreifen und dann vor dem Hintergrund aller Perspektiven die beste Entscheidung zu treffen. Das Schlimmste, was man tun kann, ist klassisch top-down zu entscheiden und sich dabei auf die Expertise weniger High Potenzials zu verlassen. Diese sind oft zu weit weg vom eigentlichen Geschehen und können die Situation nicht ausreichend – in all ihren Facetten – erfassen im Vergleich zu den Mitarbeitenden an der Basis. Um in der Krise zu überleben, braucht es aber nicht nur diese «resourceful humans» an der richtigen Stelle im Unternehmen, sondern sie müssen sich auch trauen, den Finger zu heben, wenn es drauf ankommt. Nämlich dann, wenn sie das Gefühl haben, einschreiten zu müssen, um falsche Entscheidungen abzuwenden. Jemand muss auch «Stopp» sagen – gerade dann, wenn wir auf schnelles Handeln angewiesen sind. Damit das gelingt, braucht es natürlich eine entsprechende Kultur. Eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens, der «Psychologischen Sicherheit» und eine Fehlerkultur. Nur wenn Mitarbeitende keine Angst haben müssen, dass ihre Ideen geklaut, als dumm empfunden oder bestraft werden, werden sie diese äussern. Ebenso brauchen Mitarbeitende das Gefühl, dass man sie hören und ernst nehmen will, unabhängig von ihrem Status oder ihrer Position. Besonders Führungskräfte sind nun gefragt. Sie müssen den Menschen die Chance geben, sich zu äussern, egal, wo sie sich in der Hierarchie befinden.

Um also Ihre Frage konkret zu beantworten: Es braucht Vertrauen der Mitarbeitenden in Führungskräfte und das Unternehmen, um sich zu trauen, die eigenen Ideen und Meinungen zu äussern, also Wissen zu teilen, das notwendig ist, um in Krisen schnelle und gleichzeitig die besten Entscheidungen treffen zu können.

Vertrauen in der Krise braucht es aber auch andersherum – also Vertrauen der Führungskräfte in die Mitarbeitenden. Führungskräfte müssen darauf vertrauen, dass Mitarbeitende das Potenzial haben, richtig entscheiden zu können, und dürfen ihnen die Fähigkeit dazu keinesfalls absprechen.

Sie hatten bereits angesprochen, dass die Führungskraft in dieser dynamischen Arbeitswelt eine zentrale Rolle spielt? Könnten Sie dafür ein paar konkrete Handlungsempfehlungen nennen?

Dr. Meike Wiemann-Hügler & Dr. Sandra Berenbold im Wechsel: Führung wird unter Unsicherheit natürlich noch anspruchsvoller, denn auch die Führungskräfte müssen immer steigenden Anforderungen gerecht werden. Wir möchten hierbei unterstützen und gerne sechs konkrete Hinweise für Führung in der Unsicherheit mitgeben, welche sich auch über kleine Schritte in den Führungsalltag integrieren lassen:

  1. Umdenken: Zunächst müssen Führungskräfte selbst verstehen, warum Vertrauen die besseren Resultate hervorbringen wird als Kontrolle. Wenn dieses Umdenken stattgefunden hat, können sie als Rahmengeber aktiv werden und dafür Sorge tragen, dass Mitarbeitende alle Ressourcen erhalten, um am Arbeitsplatz ihr volles Potenzial auszuschöpfen.
  2. Vorbildhandeln: Es braucht im Moment vor allem ein Vorangehen der Führung. Wenn es darum geht, Dinge zu hinterfragen und auch mal den Status quo zu hinterfragen, ist es unabdingbar, dass die Führungskraft durch ihr eigenes Handeln signalisiert, dass dies erlaubt, ja sogar gewünscht ist.
  3. Empathische Führung: Gerade in der heutigen krisengeschüttelten Zeit ist die Führungskraft idealerweise auch ein bisschen Seelenklempner. Die persönliche Betroffenheit ist in Krisen oftmals so gross, dass Privates und Berufliches immer mehr vermischt werden und Emotionen Teil des Arbeitsumfelds sind. Emotionen sollten nicht als Störfaktoren wahrgenommen werden, sondern sogar als Ressource. Sie können auch ein Frühwarnsignal sein, dann, wenn Bedenken frei ausgesprochen werden können. Sie helfen zu erkennen, wenn Dinge nicht gut laufen, und machen Teams handlungsfähiger. Deswegen kommen Führungskräfte nicht umhin, auch den Umgang mit Emotionen als Teil ihrer Führungsaufgabe zu betrachten. Die Bedürfnisse der Mitarbeitenden abzuholen und dafür empfänglich zu sein, ist ein wichtiges Signal, das insbesondere auch Vertrauen fördert.
  4. Eigene Verletzlichkeit: Besonders wichtig ist auch, dass die Führungskraft selbst auch Emotionen zulässt und ihre eigene Verletzlichkeit und Unsicherheit zeigt. Geführte müssen spüren, dass sie keine Stärke markieren müssen, sondern ebenfalls Probleme offen ansprechen dürfen. Dies fördert Vertrauen, die sogenannte psychologische Sicherheit («ich kann alles sagen, ohne dass es negative Folgen für mich hat») sowie die darauf basierende, gewünschte Fehlerkultur.
  5. Transparenz schaffen & Orientierung geben: Die Entscheidungsfrequenz nimmt in einer unsicheren Welt immer mehr zu, und Mitarbeitende müssen eng und regelmässig von ihrer Führungskraft abgeholt werden. Nur informierte Mitarbeitende können sich selbst voll einbringen und die richtigen Entscheidungen treffen. Zudem steigt Vertrauen automatisch, wenn sich alle gleichermassen abgeholt, ernst genommen und beteiligt fühlen. Führungskräfte sollten daher verstärkt auf ihre Kommunikation achten und Feedbackprozesse etablieren. Nur so kann gemeinsam in der Unsicherheit navigiert werden.
  6. Diversität nutzbar machen: Das Stichwort «resourceful humans» sagt es bereits: Je mehr Potenziale die Mitarbeitenden einbringen, desto handlungs- und anpassungsfähiger sind Unternehmen im Umgang mit Unsicherheit. Als Faustregel gilt: Je mehr Perspektiven und Vielfalt, desto besser. Führungskräfte müssen diese Diversity aber auch tatsächlich nutzbar machen. Dies zunächst natürlich durch das Signalisieren «psychologischer Sicherheit», aber auch durch das Schaffen von Austausch und Plattformen zum gemeinsamen Entwickeln von Lösungen, damit Wissen überhaupt vernetzt werden kann. Es hilft z.B., Mitarbeitende aktiv um Mitgestaltung zu bitten, jedem Gehör zu verschaffen und dann allen geäusserten Ideen Raum zu geben. Der Mut, sich einzubringen, sollte zudem durch Wertschätzung und Anerkennung belohnt werden.

Haben Sie zum Schluss noch ein Fazit aus unserer Diskussion?

Dr. Sandra Berenbold: Ein Fazit ist: Das grosse U in VUKA bringt viele Sorgen und Unsicherheit mit sich, aber man sollte es unbedingt auch als Chance betrachten. Es bietet neue Möglichkeiten und Sichtweisen und kann Unternehmen auch stärker machen. Die Menschen, «resourceful humans», sind dabei der Kern dieses Potenzials. Unternehmen sollten also nun nicht in neue Planungssysteme, sondern in den Aufbau von Vertrauen und Führung investieren, um dieses Potenzial auszuschöpfen.

Dr. Meike Wiemann-Hügler: Ich möchte noch mal einen Appell an die Führungskräfte richten. Denn ein weiteres Fazit ist: Sie sind beim erfolgreichen Umgang mit Unsicherheit das Zünglein an der Waage. Verfallen Sie aus Angst vor der Unsicherheit nicht in Überkontrolle bzw. ein Mikromanagement. Durch das Anziehen der Zügel verhindern Sie Extrarollenverhalten, Kreativität, Out-of-the-Box-Thinking und Wissensteilung – also alles, was wir zur Überwindung von Krisen dringend brauchen. Deshalb: «Traut euch loszulassen. Befähigt eure Mitarbeitenden, schenkt ihnen einen Vertrauensvorschuss und macht sie und eurer Unternehmen dadurch fit für eine unsichere Welt.

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