Inventur und Inventar: Grundlagen, Systeme und Möglichkeiten im Überblick
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Grundlegende Anforderungen an Inventur und Inventar
Ein Unternehmen ist grundsätzlich verpflichtet, im Rahmen der Rechnungslegung die einzelnen Positionen der Bilanz sowie diejenigen des Anhangs durch ein Inventar nachzuweisen, weshalb ein Inventar somit als Bestandsnachweis für die Vermögensgegenstände, Schulden und Eigenkapitalpositionen in der Bilanz wirkt. Hierbei handelt es sich um ein detailliertes mengen- und wertmässiges Verzeichnis, das die Grundsätze ordnungsmässiger Buchführung und Rechnungslegung zu erfüllen hat.
Gemäss Art. 957a OR muss ein Inventar vollständig, wahrheitsgetreu, klar, zweckmässig und nachprüfbar sein. Die Nachprüfbarkeit wird auch durch einen Belegnachweis erreicht. Dazu können beispielsweise die Zähl- und Bestandslisten gehören, die anlässlich einer Inventur erstellt und fortgeführt werden. Weitere Anforderungen werden in Art. 958c OR als Grundsätze ordnungsmässiger Rechnungslegung für ein Inventar genannt: So muss ein Inventar klar und verständlich, vollständig und verlässlich sein. Ebenfalls ist der Grundsatz der Stetigkeit für ein Inventar relevant, wonach bei der Darstellung und Bewertung stets die gleichen Massstäbe zu verwenden sind.
Weiterhin gilt, dass ein Inventar keinen Selbstzweck darstellt, sondern eine Reihe von wichtigen Aufgaben erfüllt:
- Basis für die Erstellung der Bilanz sowie für eine ordnungsmässige Buchführung.
- Mittel zur Vermögensdokumentation und somit zugleich zum Schutz der berechtigten Gläubigerinteressen.
- Kontrollinstrument für den Abgleich mit den Buchbeständen im Hauptbuch und in den Nebenbüchern (vor allem der Vorratsbuchhaltung bzw. Lagerbuchhaltung).
- Mittel zur Verbrauchsermittlung, sofern eine laufende Erfassung der Abgänge mittels Bestandsbuchführung fehlt.
Der Begriff Inventur bezeichnet dagegen den Prozess zur Aufstellung eines Inventars und kommt einer Bestandsaufnahme gleich, wobei allerdings im engeren Sinne die Inventur lediglich als die körperliche Bestandsaufnahme des Vorratsvermögens bezeichnet wird. So hat ein Unternehmen seine Vorräte regelmässig mindestens einmal jährlich mengenmässig, das heisst durch zählen, messen oder wiegen, aufzunehmen. Zum Vorratsvermögen werden alle für die Leistungserstellung vorgesehenen Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe sowie die bereits im Leistungserstellungsprozess befindlichen Halbfabrikate und die bereits erstellten Fertigfabrikate gezählt.
Als Rohstoffe gelten alle Rohmaterialien von Wert, die in ein Produkt eingehen. Sie werden üblicherweise durch die Stückliste, Spezifikation oder Rezeptur eines Produkts genau bezeichnet (z.B. Holz oder Scharniere bei einem Möbel). Hilfsstoffe sind ebenfalls Materialien, die in die Produkte eingehen, allerdings ist ihr Wert nur von marginaler bzw. untergeordneter Bedeutung (z.B. Leim oder Schrauben bei der Fertigung eines Möbels). Betriebsstoffe gehen nicht in Produkte ein, sind aber für die Herstellung der Produkte notwendige Zusatzmaterialien und bedingt durch den Maschineneinsatz in der Herstellung erforderlich (z.B. Schmieröle oder Fette).
Die einzelnen Vermögensgegenstände sind nach der körperlichen Bestandsaufnahme in einem mengenmässigen und wertmässigen Inventar zu erfassen. Für Unternehmen, die der ordentlichen Revision unterstellt sind, gilt darüber hinaus, dass der externe Revisor bei dieser mengenmässigen Bestandsaufnahme anwesend sein soll, sofern die Vorratsbestände für den Abschluss wesentlich sind.
Zum Umfang seiner Prüfungspflichten gehört weiterhin, dass der Prüfer die Inventurinstruktionen der Unternehmensleitung analysiert. Somit wird vorausgesetzt, dass sich ein Unternehmen bereits vor der eigentlichen Durchführung der Inventur organisatorisch vorbereiten muss.
Im Rahmen dieser Vorbereitung sind zahlreiche organisatorische Fragen zu klären, die sowohl den Zeitpunkt der Bestandsaufnahme betreffen als auch die Verantwortlichkeiten im Bereich der Leitung und Durchführung. Die Entscheidung hierüber fällt jedoch nicht immer leicht, da es auch Vorräte des Unternehmens geben kann, die sich im Zugriffsbereich von Dritten befinden. Ein solches Konsignationslager wird vom Lieferanten im Unternehmen des Kunden eingerichtet und betrieben, wobei der Kunde je nach Bedarf Material entnehmen kann und seine Materialentnahmen entsprechend tag- und mengengenau buchmässig erfasst. Die Bestände verbleiben allerdings bis zur Entnahme im Eigentum des Lieferanten. Erst zum Zeitpunkt der Entnahmemeldung durch den Kunden erfolgt später die Fakturierung durch den Lieferanten.
In der Praxis werden aus Kostengründen nicht selten temporäre Arbeitskräfte mit geringer fachlicher Qualifikation für die Durchführung einer Inventur eingesetzt. Hieraus resultiert jedoch ein höheres Fehlerpotenzial aufgrund fehlender Produkt- und Unternehmenskenntnis, weshalb fraglich ist, ob die Kosten der Fehlerbeseitigung einen solchen Personaleinsatz wirklich ratsam erscheinen lassen.
Im Folgenden sollen wichtige Bereiche und Fragen zum Thema “Inventur und Inventar” behandelt werden, die eine interdisziplinäre Aufgabe darstellt, da nicht nur Verantwortliche aus dem Funktionsbereich Logistik bzw. Lager, sondern ebenso solche aus dem Funktionsbereich Rechnungswesen/Controlling beteiligt sind. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass neben der mengenmässigen Bestandsaufnahme eine grosse Herausforderung auch in der Bewertung der Vorräte liegt.
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Inventur und Inventar: Inventursysteme nach dem Zeitpunkt der Inventur
Stichtagsinventur oder zeitnahe Inventur
Die Durchführung der Inventur am Bilanzstichtag bzw. am unmittelbar davor oder danach liegenden Tag ist grundsätzlich der theoretisch gewünschte Normalfall. In der Praxis ist die Stichtagsinventur allerdings eher Theorie, weil sie aus personellen, organisatorischen, produktionsbezogenen oder anderen Gründen oft nicht möglich ist. Alternativ kann dann beispielsweise auf eine «zeitnahe Inventur » gewechselt werden, die jedoch dann eine Fortschreibung oder Rückrechnung der Bestandswerte erfordert.
Hinsichtlich der Vor- und Nachteile der Stichtagsinventur liegt der wesentliche Vorteil darin, dass im Unternehmen keine oder nur geringe Aufzeichnungen über Bestandsveränderungen notwendig sind, da ja eine stichtagsbezogene Gesamtkontrolle aller Vorratsgegenstände erfolgt, die sich dann mit der Buchhaltung abstimmen lässt. Nachteilig ist jedoch, dass es durch die stichtagsbezogene Aufnahme aller Vermögensgegenstände zu organisatorischen Beeinträchtigungen, im Extremfall bis zum Betriebsunterbruch oder gar zur vorübergehenden Schliessung der Verkaufsräume führt. Auch ist ein erhöhter Personalbedarf am Inventurtag der Fall, an dem wenig bis keine zeitliche Flexibilität besteht und somit ein verhältnismässig hoher zeitlicher Druck vorliegt, der die Qualität der Bestandsaufnahme zusätzlich beeinträchtigen kann.
Vor- oder nachgelagerte Inventur Bei der vor- oder nachgelagerten Inventur erfolgt die Bestandsaufnahme drei Monate vor bis zwei Monate nach dem Abschlussstichtag. Auch hierbei ist eine Fortschreibung bzw. Rückrechnung der Bestandswerte zum Abschlussstichtag erforderlich. Aus sachlichen Gründen ist eine vor- oder nachgelagerte Inventur allerdings zu vermeiden bei besonders werthaltigen Beständen oder solchen mit vergleichsweise hohen Preisschwankungen.
Ein Ausweichen auf die «zeitnahe Inventur» bietet somit den Vorteil, dass nicht alle Bestände an einem Tag aufgenommen werden müssen und somit Beeinträchtigungen der betrieblichen Abläufe eher vermieden werden können.
Für die Wert-Fortschreibung bietet sich beispielsweise die folgende Vorgehensweise an:
Bestandswert lt. Inventur per 30. November 2023 | |
---|---|
+ | Wertzugänge durch Waren-/Materialeingänge in der Zeit vom 1. bis 31. Dezember 2023 |
- | Wert der Abgänge durch Waren-/Materialeinsatz in der Zeit vom 1. bis 31. Dezember 2023 |
= | Inventar- bzw. Bestandswert per 31. Dezember 2023 |
Dagegen folgt eine Wert-Rückrechnung dem folgenden Vorgehen:
Inventar-/Bilanzwert am Tag der Inventur 31. Januar 2024 | |
---|---|
- | Wareneingang bzw. Materialeingang 1. bis 31. Januar 2024 |
+ | Wareneinsatz bzw. Materialeinsatz 1. bis 31. Januar 2024 |
= | Inventar-/Bilanzwert per 31. Dezember 2024 |
Permanente Inventur
Auf eine körperliche Bestandsaufnahme durch Zählen, Messen und Wiegen am Bilanzstichtag kann dann verzichtet werden, wenn der Bestand für diesen Stichtag nach Art und Menge anhand der Lagerbuchhaltung jederzeit festgestellt werden kann. Die permanente Inventur hat daher auch in der Praxis eine grosse Bedeutung. Voraussetzung hierfür ist, dass alle Zu- und Abgänge laufend in einer Lagerbuchhaltung erfasst werden können. Nur so kann die geforderte laufende Fortschreibung der Vorratsbestände unter Berücksichtigung des Anfangsbestands während des Geschäftsjahrs zur gewünschten Transparenz der Bestände führen.
Die permanente Inventur erstreckt sich als laufende Bestandskontrolle somit über das gesamte Geschäftsjahr auf beliebig viele Termine. Die Erstellung des Inventars zum Abschlussstichtag erfolgt dann direkt aus der Lagerbuchhaltung heraus.
Aus diesem Grund muss die Lagerbuchhaltung jederzeit ordnungsmässig sein und alle Bestände sowie alle Zugänge und Abgänge einzeln nach Tag, Art und Menge erfasst haben. Einmal jährlich ist im Geschäftsjahr die Richtigkeit der Bestände der Lagerbuchhaltung zu überprüfen, wobei der Kontrolltermin frei wählbar ist, aber planmässig erfolgen muss, damit die Vollständigkeit gewährleistet wird. Dies bietet die Möglichkeit, Differenzen zwischen Ist- und Buchbestand zu analysieren.
Zu den Vorteilen der permanenten Inventur gehört die zeitliche Flexibilität der körperlichen Bestandsaufnahme, womit der genaue Bestand des Vorratsvermögens jederzeit ermittelbar ist, da er sich direkt der Lagerbuchhaltung entnehmen lässt. So können sich die Entscheidungsträger im Unternehmen täglich über die Bestände und Bestandsbewegungen informieren. Dies zeigt zugleich den wichtigsten Nachteil der permanenten Inventur auf, der darin besteht, dass vergleichsweise hohe Implementierungskosten für die Einrichtung, Führung und Kontrolle der notwendigen Lagerbuchführung aufgrund organisatorischer und/oder personeller Anpassungen anfallen.
Stichprobeninventur
Der Vorratsbestand kann nach Art, Menge und Wert ebenso unter Einsatz von mathematisch- statistischen Stichproben ermittelt werden. Dies setzt voraus, dass zumindest eine Stichprobe der ausgewählten Lagerposition körperlich aufgenommen wird und im Anschluss auf den Gesamt-Inventurwert der Vorräte hochgerechnet wird (z.B. mittels einer Mittelwertschätzung). Ein wesentlicher Vorteil der Stichprobeninventur ist die Tatsache, dass sie im Hinblick auf die benötigte Zeit und die verursachten Kosten sicher günstiger als eine vollumfängliche Inventur ausfällt.
Inventur und Inventar: Beispiel zu Inventursystemen
Ausgangssituation
Die Einzelunternehmung Floretti betreibt einen Warenhandel. Der Abschlussstichtag des Unternehmens ist jeweils der 31. Dezember eines Jahres. Durch die hohe Arbeitsbelastung im Weihnachtsgeschäft soll in der Zeit vom 27. Dezember 2023 bis zum 8. Januar 2024 das Geschäft geschlossen bleiben, allerdings ist sich der Inhaber nicht sicher, ob dies wegen der Inventur in dieser Jahreszeit vertretbar ist. Da sein Geschäft im Sommer eher ruhigere Zeiten kennt, besteht seine Präferenz darin, die Inventur im August eines Jahres durchzuführen.
Bisher werden lediglich die Wareneinkäufe im Wareneingangsbuch erfasst. Eine buchmässige Erfassung der einzelnen Verkäufe als Abgänge vom Warenlager erfolgt jedoch nicht, allerdings wird der gesamte Tagesumsatz erfasst. Darüber hinaus ist bekannt, dass mit Diebstählen im Umfang von durchschnittlich 2% zu rechnen ist.
Lösung
Das vorliegende Inventurproblem könnte wie folgt gelöst werden: Floretti bietet sich die Möglichkeit, anstelle einer normalen Stichtagsinventur auf eine zeitnahe Inventur bzw. eine vor- oder nachgelagerte oder aber eine permanente Inventur zu wechseln. Eine Verlegung in den Monat August wäre allenfalls möglich, wenn er zum Verfahren der permanenten Inventur wechseln würde. Diese setzt jedoch wiederum voraus, dass eine ordnungsgemässe Buchhaltung des Warenlagers erfolgt und somit sämtliche Warenbewegungen erfasst werden. Die Voraussetzung für eine permanente Inventur sind allerdings bisher nicht gegeben, da die Warenabgänge bzw. -verkäufe bislang nicht mengenmässig erfasst werden.
Ein Wechsel zur vor- oder nachverlegten Inventur würde die Fortschreibung bzw. Rückrechnung der Bestandswerte erfordern. Hierbei schliesst sich aber eine Vorverlegung des Inventurtermins aufgrund des wichtigen Weihnachtsgeschäfts aus. Zudem werden nur die Gesamtumsätze, nicht aber die wertmässigen Bewegungen der Warenbestände erfasst.
Aufgrund der dargestellten Situation ist die zeitnahe Inventur in der Zeit vom 8. Januar bis 10. Januar 2024 die beste Alternative. Dies würde erfordern, dass Floretti sämtliche Warenbewegungen zwischen dem Abschlussstichtag und dem Inventurdatum erfasst und eine Rückrechnung auf den 31. Dezember 2023 vornimmt.