Reserven: Der Umgang mit Reserven im neuen Aktienrecht

Mit der am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Aktienrechtsrevision wurden die Vorschriften zur Bildung, Auflösung und Verwendung von offenen Reserven modifiziert, präzisiert und mit der Terminologie des Rechnungslegungsrechts harmonisiert. Allerdings: In der Praxis sind teilweise noch Unsicherheiten und Umstellungsprobleme festzustellen. Dieser Beitrag liefert deshalb einen Überblick über die aktuellen Regelungen.

24.10.2023 Von: Roberto Di Nino
Reserven

Einleitung

Die Bestimmungen zu den offenen Reserven umfassen in erster Linie die Regelungen gemäss den Art. 671, 672 und 673 OR (siehe Abbildung 1) , wobei thematisch ebenfalls die Bestimmung gemäss Art. 674 OR (Umgang mit Verlusten) direkt zu diesem Themenbereich gehört.

Die Bestimmungen zu den offenen Reserven nehmen zwei Aspekte in den Fokus: Zum einen geht es um die Frage der Ausschüttungsfähigkeit der Reserven (in der Regel in Form von Dividenden) und zum anderen um die Offenlegung der Herkunft der Reserven (Innen- vs. Aussenfinanzierung). Der erste Punkt (Ausschüttungsfähigkeit) schafft eine Differenzierung der Reserven zwischen sogenanntem geschütztem Kapital, welches für Gewinnausschüttungen gesperrt ist und damit das Haftungssubstrat der Gesellschaft stärken soll, und weitergehenden Reserven, welche grundsätzlich der Generalversammlung bzw. den Gesellschafterinnen und Gesellschaftern für Ausschüttungen (Dividenden) zur Verfügung stehen. Im zweiten Punkt (Offenlegung der Herkunft der Reserven) unterscheidet das Gesetz die Reserven danach, ob sie von den Aktionärinnen und Aktionären «von aussen» der Gesellschaft zugeführt werden (Kapitalreserven) oder ob sie aus «zurückbehaltenen» Gewinnen der Gesellschaft («von innen») gebildet wurden.

Das Gesetz fordert in einem bestimmten Umfang eine Reservebildung, um Unternehmen für Zeiten schlechten Geschäftsgangs zu stärken. In der Rechnungslegung macht sich der schlechte Geschäftsgang am Ausweis von Verlusten fest, das Verhältnis von Verlusten und Reserven wird deshalb ebenfalls gesetzlich verankert, dies zur Hauptsache in der Bestimmung von Art. 674 OR (vgl. dazu auch Abbildung 2).

Art. 671 OR: Gesetzliche Kapitalreserve

Bei der gesetzlichen Kapitalreserve gemäss Art. 671 OR handelt es sich um Mittel, die von den Gesellschaftern einbezahlt werden. Es geht hier somit um eine Form der Aussenfinanzierung. Absatz 1 dieser Bestimmung enthält einen Katalog mit drei Tatbeständen, die darunterfallen:

  • Die wohl häufigste Form ist die «Überpari- Emission» von Aktien. Wenn bei der Ausgabe von Aktien der Ausgabebetrag über dem Nennwert festgelegt wird, so ist der überschiessende Betrag (Agio) der gesetzlichen Kapitalreserve zuzuweisen. Dies gilt unabhängig davon, ob dies anhand der Gründung oder einer späteren Kapitalerhöhung erfolgt. Das Gesetz sieht die Möglichkeit vor, dass die Ausgabekosten vorweg dem Agio belastet werden können, in der Regel werden die Ausgabekosten jedoch in der Erfolgsrechnung verbucht.
  • Der Punkt 2 stellt in der Praxis einen klaren Ausnahmefall dar. Falls nicht voll liberierte Aktien trotz Aufforderung nicht vollständig liberiert werden, steht dem Verwaltungsrat die Möglichkeit offen, diese Aktien zu «kaduzieren», d.h., den säumigen Aktionär seiner Rechte aus der Zeichnung der Aktien und seiner geleisteten Teilzahlung verlustig zu erklären (Art. 681 Abs. 2 OR). Die bereits geleistete Einlage ist daher zum Zeitpunkt dieser Kraftloserklärung vom Aktienkapital in die gesetzliche Kapitalreserve umzugliedern.
  • Der dritte Punkt stellt sodann klar, dass nicht nur Aufgelder (Agio) gemäss Punkt 1 der Kapitalreserve zuzuweisen sind, sondern auch alle weiteren Einlagen und Zuschüsse, die von den Gesellschafterinnen und Gesellschaftern geleistet werden. Diese Klarstellung steht im Zusammenhang mit dem im Rahmen der Unternehmenssteuerreform II etablierten «Kapitaleinlageprinzip ». Demnach werden nicht nur Aufgelder (gemäss Punkt 1), sondern alle anderen Einlagen und Zuschüsse bei einer Rückzahlung an die Gesellschafterinnen und Gesellschafter wie die Rückzahlung von nominellem Aktienkapital behandelt. Anders ausgedrückt – auf Ebene der Eigner Privatvermögen vorausgesetzt –, bleiben geleistete Einlagen, gleich in welcher Form, bei der Rückzahlung steuerfrei, was sachgerecht ist.
  • Absatz 2 regelt sodann, dass die gesetzliche Kapitalreserve an die Aktionärinnen und Aktionäre zurückbezahlt werden darf, soweit die gesetzlichen Gewinn- und Kapitalreserven die Hälfte des im Handelsregister eingetragenen Aktienkapitals – abzüglich des Betrags eines allfälligen Verlustvortrags – übersteigen. Damit schafft das Gesetz aus der gesetzlichen Kapitalreserve und der gesetzlichen Gewinnreserve (vgl. dazu später Art. 672 OR) einen gemeinsamen «Topf» und limitiert das geschützte Kapital in diesem «Topf» in der Höhe auf die Hälfte des Aktienkapitals. Mit anderen Worten bedeutet dies aber auch: Solange dieser «Topf» gesamthaft 50% des im Handelsregister eingetragenen Aktienkapitals noch nicht erreicht hat, sind gesetzliche Kapitalreserven nicht ausschüttungsfähig. Der Zweck in diesem Fall ist die Stärkung der Eigenkapitalbasis bzw. die Erhaltung des Haftungssubstrats der Gesellschaft. Dementsprechend kommt allenfalls eine Verrechnung mit Verlusten in Betracht (vgl. dazu später Ausführungen zu Art. 674 OR). 

Absatz 3 schafft für Holdinggesellschaften tiefere Grenzen für das geschützte Kapital: Die Ausschüttung ist möglich, wenn das Total der gesetzlichen Gewinn- und Kapitalreserve 20% beträgt. Diese Erleichterung ergibt Sinn, zu beachten ist, dass die Reservevorschriften (und die Grenze von 50% gemäss Absatz 2) auf Ebene der beherrschten Gesellschaften bereits beachtet werden mussten, bevor Dividendenausschüttungen an die Holdinggesellschaft erfolgt sind.

Art. 672 OR: Gesetzliche Gewinnreserve

Die Gewinnreserve umfasst sämtliche Reserven, die aus einbehaltenen Gewinnen der Gesellschaft gebildet werden. Es handelt sich somit – im Gegensatz zu den Kapitalreserven – um einen Akt der Innenfinanzierung. Begrifflich wird die Gewinnreserve differenziert in die gesetzliche Gewinnreserve (Art. 672 OR) und die freiwilligen Gewinnreserven (Art. 673 OR; vgl. dazu später).

Der Gesetzgeber sieht im Sinne einer Kapitalschutzbestimmung eine gewisse Mindestausstattung an Reserven vor, bevor die erzielten Gewinne für Dividendenausschüttungen herangezogen werden dürfen. 5% des Jahresgewinns sind dementsprechend den gesetzlichen Gewinnreserven zuzuweisen. Sofern ein Verlustvortrag besteht, ist vor der allfälligen Zuweisung an die Reserve dieser Verlustvortrag zu decken. Sobald allfällige Verlustvorträge verrechnet und die Reservezuweisungen erfolgt sind, ist der verbleibende Gewinn als Dividende ausschüttungsfähig.

Die gesetzliche Gewinnreserve ist gemäss Absatz 2 so lange zu bilden, bis sie zusammen mit der gesetzlichen Kapitalreserve die Höhe von 50% des im Handelsregister eingetragenen Aktienkapitals erreicht. Wie unter Art. 671 OR ausgeführt, sind für diese Betrachtung beide Kategorien von Reserven als ein «Topf» zu betrachten. Für Holdinggesellschaften gilt wiederum der Schwellenwert von 20%.

Absatz 3 verweist in Bezug auf die Verwendungsmöglichkeiten auf die Bestimmungen zur gesetzlichen Kapitalreserve. Das heisst, sobald die gesetzlichen Gewinn- und Kapitalreserven 50% des Aktienkapitals überschritten haben, so sind ebenfalls die darüber hinausgehenden gesetzlichen Gewinnreserven ausschüttungsfähig.

Zu den gesetzlichen Gewinnreserven gehören aus systematischen Gründen ebenfalls die Reserven für eigene Aktien im Konzern (Art. 659b OR) sowie die Aufwertungsreserve (Art. 725c OR). Diese Reservetypen sind jedoch stets und grundsätzlich für Gewinnausschüttungen gesperrt, und sie dürfen folglich bei der Berechnung des Grenzwerts von 50% des im Handelsregister eingetragenen Aktienkapitals nicht berücksichtigt werden.

Art. 673 OR: Freiwillige Gewinnreserven

Über die gesetzlichen Gewinnreserven hinaus können weitere Reservebildungen erfolgen. Begrifflich spricht man in diesem Fall von freiwilligen Gewinnreserven. Gemäss Art. 673 Abs. 1 OR kann die Generalversammlung entweder durch eine statutarische Regelung oder durch Beschluss die Bildung zusätzlicher freiwilliger Gewinnreserven vorsehen. In der Praxis ist der (direkte) Beschluss durch die Generalversammlung der Normalfall, eine weitergehende Regelung in den Statuten ist dagegen ein klarer Ausnahmefall.

Ein besonderes Augenmerk ist in diesem Fall auf Absatz 2 dieser Bestimmung zu richten. Dementsprechend dürfen freiwillige Gewinnreserven nur gebildet werden, wenn das dauernde Gedeihen des Unternehmens unter Berücksichtigung der Interessen aller Aktionärinnen und Aktionäre dies rechtfertigt. Diese Bestimmung räumt somit Personen mit einer Minderheitsbeteiligung einen besonderen Schutz ein. Die Bildung zusätzlicher Reserven ist demnach mit Blick auf den Schutz dieses Personenkreises nicht nach freiem Ermessen möglich. Nicht zulässig ist die Bildung von Reserven beispielsweise dann, wenn sie ein «Aushungern» von Personen mit Minderheitsbeteiligungen bezweckt, d.h., einem missbräuchlichen Dividendenverzicht oder einem missbräuchlichen Tiefhalten von Dividenden dient, um diese Personen allenfalls zu einem unterpreisigen Verkauf der Aktien zu bewegen.

HINWEIS: In Konstellationen mit unterschiedlichen und divergierenden Aktionärsgruppen ist deshalb besondere Sorgfalt bei der Dokumentation der Entscheidungsfindung geboten.

Der Verwaltungsrat hat die Aspekte und Entscheidungsgrundlagen sauber zu dokumentieren. Eine Begründung kann beispielsweise sein, dass der Gewinn zur Stärkung des Unternehmens und für anstehende Investitionen eingesetzt werden soll. Diese Dokumentation ist auch für die Kommunikation mit der Revisionsstelle von Vorteil, da die Revisionsstelle die Gesetzeskonformität des Antrags des Verwaltungsrats über die Verwendung des Bilanzgewinns prüft (Art. 728a Abs. 1 Ziff. 2 OR und Art. 729a Abs. 1 Ziff. 2 OR).

Absatz 3 regelt die Verwendung der freiwiligen Gewinnreserven. Solange keine Verluste vorliegen (vgl. dazu Ausführungen zu Art. 674 OR), obliegt die Verwendung (Ausschüttung) der freiwilligen Gewinnreserven der Beschlussfassung durch die Generalversammlung (bzw. sofern es dafür eine statutarische Grundlage gibt, erfolgt die Verwendung nach Massgabe der Auflagen der Statuten).

Art. 674 OR: Verrechnung mit Verlusten

Art. 674 Abs. 1 OR sieht vor, dass Verluste zwingend in der folgenden Reihenfolge verrechnet werden müssen: mit dem Gewinnvortrag (Ziff. 1), mit freiwilligen Gewinnreserven (Ziff. 2), mit der gesetzlichen Gewinnreserve (Ziff. 3) und mit der gesetzlichen Kapitalreserve (Ziff. 4).

Die Verrechnung mit dem Gewinnvortrag und den freiwiligen Gewinnreserven ist zwingend. Gemäss Absatz 2 können jedoch verbleibende Verluste anstelle der Verrechnung mit der gesetzlichen Gewinnreserve oder mit der gesetzlichen Kapitalreserve teilweise oder ganz auf die neue Jahresrechnung vorgetragen werden. Der verbleibende Verlust wird in diesem Fall im Konto Verlustvortrag geführt (siehe Abbildung 2).

Auch in dieser Norm kommt eine spezifische Schutzfunktion der Reserven zum Ausdruck. Sofern Verluste entstehen, haben nicht nur die gesetzlichen Gewinn- und Kapitalreserven (bis 50% des Aktienkapitals) die Funktion als geschütztes Kapital, sondern auch freiwillige Gewinnreserven, welche – eine Normalsituation vorausgesetzt – ansonsten ausschüttbar wären.

Sofern die Jahresverluste tiefer als der Gewinnvortrag und die freiwilligen Gewinnreserven sind, ist der Umgang mit dem Verlust gesetzlich vorgegeben und vom Verwaltungsrat gemäss Gesetz entsprechend zu vollziehen. Es braucht dafür keinen Beschluss der Generalversammlung. Die Verbuchung erfolgt jedoch im neuen Jahr, weil die Gliederungsvorschriften für die Bilanz vorsehen, dass das Jahresergebnis gesondert ausgewiesen werden muss (Art. 959a Abs. 2 Ziff. 3g OR).

Sofern der Jahresverlust höher als der Gewinnvortrag und die freiwilligen Gewinnreserven liegt, besteht wie ausgeführt gemäss Absatz 2 ein Wahlrecht, den Verlust zu verrechnen oder auf neue Rechnung vorzutragen. Der Beschluss darüber liegt in der Kompetenz der Generalversammlung. Der Verwaltungsrat hat diesbezüglich zuhanden der Generalversammlung mit einem Antrag die Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung zu stellen.

Beispiel

Die der Generalversammlung vorgelegte Jahresrechnung zeigt im Eigenkapital das folgende Bild: Aktienkapital CHF 1 000 000.–, gesetzliche Kapitalreserve CHF 200 000.–, gesetzliche Gewinnreserve CHF 300 000 000.–, freiwillige Gewinnreserve CHF 150 000.–, Jahresverlust CHF −200 000.–.

Im Vorjahr hatte die GV beschlossen, den zur Verfügung stehenden Gewinn von CHF 150 000.– nicht als Dividende auszuschütten, sondern der freiwilligen Gewinnreserve zuzuweisen und damit einer späteren Ausschüttung vorzubehalten. In diesem Jahr möchte Sie auf diesen Entscheid zurückkommen, aus der freiwilligen Gewinnreserve eine Dividende von CHF 150 000.– auszuschütten und den Jahresverlust mit der gesetzlichen Gewinnreserve zu verrechnen. Ist dies möglich?

Antwort:

Nein, die im Vorjahr möglich gewesene Dividendenausschüttung ist dieses Jahr aufgrund des eingetretenen Verlusts nicht mehr möglich. Der Verlust ist zwingend mit der freiwilligen Gewinnreserve zu verrechnen. Der verbleibende Verlust von CHF 50 000.– ist anschliessend alternativ entweder mit der gesetzlichen Gewinnreserve zu verrechnen oder auf neue Rechnung vorzutragen. Falls die Generalversammlung in Zukunft wieder schneller Gewinnausschüttungen beanspruchen will, so ist ihr die Variante «Verrechnung mit den gesetzlichen Gewinnreserven CHF 50 000.–» zu empfehlen.

HINWEIS: Welches Vorgehen (Vortrag auf neue Rechnung vs. Verrechnung) zweckmässig ist, hängt von der individuellen Situation ab.

Das oben erwähnte Beispiel zeigt einen Effekt: Durch die Verrechnung wird die Möglichkeit für die Ausschüttung von Gewinnen, wenn wieder bessere Zeiten kommen werden, beschleunigt. In einer Krisensituation wird die Schwelle des rechtlich relevanten Kapitalverlusts durch eine Verrechnung ebenfalls erhöht, was für den Verwaltungsrat aus rechtlicher Sicht vorteilhaft sein kann. Gründe, die gegen eine Verrechnung sprechen, sind beispielsweise steuerlicher Natur: Sofern gesetzliche Kapitalreserven mit Verlusten verrechnet werden, ist die Möglichkeit für eine spätere steuerfreie Rückzahlung vernichtet worden. In der Praxis muss deshalb das vernünftige Vorgehen im Einzelfall abgewogen werden.

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